Entfremdung gegen den Narzissmus

/ November 26, 2011

Das ‚lyrische Ich‘ ist die Sprecherin eines Gedichtes. Es ist nicht notwendigerweise identisch mit dem Autorinnen-Ich, also der Person, die das Gedicht verfasst hat. Das ist an sich ein No-Brainer, aber es gibt immer wieder Fälle wie den Folgenden:
Robbie Williams singt in ‚Old Before I Die‘ die Zeile: „Am I straight or gay?“
Der Boulevard fragt: „Ist Robbie Williams jetzt schwul?“
Das mag ein albernes Beispiel sein, denn der Boulevard macht sowas mit Absicht usw., aber ich denke, es beleuchtet das Prinzip.

In Prosatexten existiert das lyrische Ich vielfach, denn jeder einzelne Charakter stellt eines dar. Das gilt auch für NPCs und Tiere, und wenn frau es sehr eng sieht, sogar für gewisse Formen von Ereignissen.
Und so wie Leserinnen lyrisches und Autorinnen-Ich verwechseln können, kann das auch der Autorin passieren. Damit meine ich keine offensichtlichen Self-Inserts in Fanfics (ich denke, darüber gibt es genügend Hasstiraden, einfach mal die Ente fragen), sondern einen z.T. deutlich subtileren Prozess, dem frau erstmal auf die Schliche kommen muss. Auf das selbe läuft es trotzdem hinaus: die Autorin hat sich selbst in die Geschichte hineingeschrieben, und ihr damit möglicherweise keinen Gefallen getan.

Ich möchte das ganze zur Vereinfachung in verschiedene Formen von Self-Insert aufteilen. Meine Liste ist kurz und erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

  • Das Held-Insert: Bei dieser Form des Self-Insert sind alle sympathietragenden Charaktere nach einem erkennbar ähnlichen Schema aufgebaut. Sie haben allesamt Eigenschaften (auch äußerliche), die die Autorin an sich selbst oder an anderen bewunderns- oder erstrebenswert findet. Eigenschaften, die der Autorin missfallen, werden einzig Antipathieträgern ‚angehängt‘.
    Wenn frau als Leserin das Schema bemerkt, legt sie das Buch mit dem Gefühl beiseite, die Autorin und ihren Geschmack genau kennengelernt zu haben, aber nicht einem einzigen originellen, organisch gewachsenen, authentischen Charakter begegnet zu sein.
    Als Autorin steht frau irgendwann vor dem Problem, dass alle Charaktere mehr oder weniger Klone ein und derselben Idealvorstellung sind, dass sie alle dieselben Entscheidungen treffen. Im schlimmsten Fall erzählt sie ein und dieselbe Geschichte wieder und wieder und wieder.
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  • Das Vorurteils-Insert: Gibt es doch Charaktere, die von diesem Schema abweichen, bedeutet das nicht, dass sie nicht auch eine Verkörperung der Autorin selbst sind. Sie sind – nur eben nicht ihrer Ideale, sondern ihrer positiven wie negativen Vorurteile. Auch hier fehlt die Authentizität. Erfolgreiche Frauen sind kinderlos und sexy, parken aber schlecht ein, Männer denken ständig an Sex und können nicht zuhören, Jugendliche sowieso nicht und sind außerdem noch aufsässig aber voller putziger kleiner Ideen, Sekretärinnen sind Engel im Minirock oder haben 365 Tage im Jahr PMS, Rentner sind großmütterlich und konservativ, Nerds wissen alles über Computer, wohnen aber noch bei Mama im Keller, Schwule sind tuntig und supertolle beste Freunde, Lesben sind stutenbissige Männerhasserinnen, untreue PartnerInnen sind in jeder Hinsicht Schweine, der/die ‚Neue‘ ist ein Biest oder egoverkrüppelnd perfekt, und Kassiererinnen… allesamt ordinäre Zicken. Es findet keine Nuancierung statt, kein Hinterfragen. Die Autorin nimmt ihre Meinung, ihr Weltbild, ihre Wahrnehmung einfach als die absolute Wahrheit an und schreibt sie ganz selbstverständlich auf.
    Die Leserin – falls sie meine Wenigkeit ist – fühlt sich irgendwann ziemlich genervt. Da schreibt also eine über etwas, von dem sie nicht die geringste Ahnung hat (andere Menschen), und bemerkt es nichtmal. Abziehbildchen 1 bis 15 als Ersatz für authentische Charaktere mit Leben und dieser gewissen dritten Dimension, die sie interessant machen könnte.
    Die Autorin steht irgendwann vor dem gleichen Problem wie oben: Alle ihre Charaktere sind irgendwie Klone, weil sie ja nur dieses eine Vorurteil je Charakter hat. Vielleicht mischt sie sie ein bisschen, vielleicht wird sie ganz mutig und wirft etwas dazwischen, das total clever ihrem eigenen Vorurteil widerspricht. Aber das Grundproblem löst sie damit nicht.
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  • Das Ich-denke-das-muss-so-Insert: Mehr Vorurteile, aber diesmal der Leserin gegenüber. Jede Autorin hat, denke ich mal, zumindest eine vage Vorstellung von der Zielgruppe, bei der ihre Erzählung gut ankommen dürfte. Und, teils bewusst, teils ohne es zu merken, schneidet sie ihre Charaktere auf die vermuteten Erwartungen und den vermuteten sonstigen Geschmack dieser Zielgruppe zu. Weil sie denkt, dass das so muss. Ein Chara des Typs ‚beste Freundin‘ hat halt nur drei mögliche Ausprägungen. Ein ‚Erfolgreiche Frau‘-Charakter muss halt so oder so beschaffen sein, damit die Leserin ihn ernst nimmt oder sympathisch findet. Ein ‚Neuer Lover‘-Chara braucht dieses oder jenes feste Set von Eigenschaften, damit die Leserin ihn genau so toll findet wie die Heldin der Geschichte. Und wenn ‚Die Neue vom Ex‘ nicht entweder Typ ‚Biest‘ oder ‚Egoverkrüppelnd Perfekt‘ ist, kann sich die Leserin gar nicht mit der Heldin identifizieren.
    Als Leserin fühlt frau sich von sowas entweder total begeistert, weil sie die guten alten Bekannten aus all den anderen Büchern für ihre Zielgruppe wieder sieht und genau weiß, was Sache ist. Oder sie fühlt sich verarscht. Ganz im Ernst. Ich fühle mich verarscht, wenn mir eine Autorin so einen vorverdauten Brei vorsetzt. Ich habe Zähne! Ich will was kauen, Frau. Ich will was, das nach was schmeckt.
    Die Autorin hat dahingehend ein leichtes Leben, dass sich ihre Charas von selbst schreiben und sie sich eines gewissen Erfolgs fast sicher sein kann. Aber auch hier wird sie in das Klon-Problem hineinlaufen, und in Kritiken, die sie als ’seicht‘ betiteln.
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  • Das Meinungs-Insert: Es überschneidet sich ein Stück weit mit dem Vorurteils-Insert, da auch Vorurteile Meinungen sind. Beim Meinungs-Insert handelt es sich aber nicht nur um kleine, unhinterfragte Selbstverständlichkeiten, die die Autorin nebenbei einbaut; nein, hier geht sie bewusst vor. Sie hat da was, das sie so richtig nervt, oder das sie so richtig toll findet, oder so eine Theorie über dies oder das, und natürlich (!) muss das dem entsprechend gearteten Charakter in den Mund und das Verhalten gelegt werden. Die Grenze kann subtil sein, ist aber definitiv überschritten, wenn der untreue Ehemann nicht nur eine Pflaume mit menschlichen Fehlern ist, sondern zum Bösewicht mutiert, oder die Kassiererin nicht nur schlecht gelaunt, sondern richtiggehend unverschämt daherkommt. Die entsprechenden Charaktere und Verhaltensweisen wirken oft hölzern, konstruiert und ungeschickt.
    Als Leserin fragt frau sich dann, warum die Autorin ihre armen Charaktere missbraucht. Wenn sie sich Wut oder Theorien von der Seele schreiben will, gibt es dafür wunderbar geeignete Textformen, wie z.B. das Essay oder das Pamphlet. In einer Erzählung geht es darum, etwas zu erzählen, eine eigenständige Welt wachsen zu lassen, Charaktere wachsen zu lassen, und nicht darum, dass die Autorin sich selbst perfekte Momente zusammenschreibt, in denen jeder sehen kann, was sie innerlich so umtreibt, und alle, auf die es ankommt auch noch ihrer Meinung sind.
    Als Autorin fühlt frau sich wahrscheinlich nach dem Schreiben erfrischt, erfüllt und verwirklicht; es sei ihr gegönnt. Aber ihre Geschichte ist ein verhunztes Pamphlet. Vielleicht wird sie den gleichen Erfolg damit haben wie Hera Lind, wer weiß; auch das sei ihr gegönnt. Ihr und ihrem verhunzten Pamphlet.

Wir Menschen sind alle in unserem eigenen Erleben gefangen.
Wir können nicht aus unserem Hirn raus, unserer eigenen Historie. Und wenn uns eine Freundin ihre Sicht auf die Welt darlegt, hören wir auch ihre Beschreibung immer vor diesem Hintergrund und interpretieren sie nach unseren eigenen, begrenzten Möglichkeiten.
Auch ist eine Geschichte, ganz gleich wie organisch gewachsen sie ist, immer noch auf unserem Mist gewachsen, von unseren Interessen geprägt, durch unseren Denkstil strukturiert, und letztendlich ein Dokument von millionen von Einzelentscheidungen, die wir – und niemand anderes – beim Überarbeiten getroffen haben.
Aber es gibt Mittel und Wege, wie wir uns ein ganzes Stück weit über uns selbst erheben können. Wir stehen dann zwar immer noch mitten im Wald, aber so das Unterholz wird als solches erkennbar, wenn frau auf einen der Bäume klettert. Doch überstrapazieren wir diese Metapher nicht. Ahem.

„Nun, Tine, dann mal raus mit der Sprache!“ werdet ihr jetzt sagen, vielleicht mit einem herausfordernden Funkeln in euren hübschen kleinen Äuglein.
„Lest nur zu, liebe Kinder.“ antworte ich und genehmige mir noch einen Schuss Vodka.

Wie kann frau aus der Self-Insert-Fall herauskommen?
Zuallererst mal muss frau es überhaupt wollen.
Viele Autorinnen genießen es als eine Form der Selbstverwirklichung, unter dem Vorwand einer Geschichte über sich selbst zu sprechen und verwandten Seelen zu gefallen. Das sei ihnen unbenommen, denn dabei kann das Schreiben seine vielbesungene ‚therapeutische‘ Wirkung gut entfalten. Aber wenn das Ziel darin besteht, etwas wirklich unverdorbenes, authentisches zu erschaffen, eine Welt, die ein Eigenleben und einen Selbstzweck hat, führt kein Weg daran vorbei, die narzisstische Schreibhaltung aufzugeben und die eigenen Interessen hinter denen der Erzählung zurückzustellen.
Frau muss bereit sein, ihr Verhältnis zu sich selbst ebenso zu entwickeln wie die Fertigkeit, einen Plot zu strukturieren oder eine packende Beschreibung aufzubauen.
Der wichtigste Schritt bei dieser Entwicklung ist – denke ich – sich das eigene Menschenbild und die darin inbegriffenen Vorurteile zu vergegenwärtigen.

Was genau ist nun ein Menschenbild?
Ich umschreibe das mal anhand von ein paar Fragen, die frau sich selbst stellen kann, um ihrem eigenen auf die Schliche zu kommen:

  • Welche fundamentalen Bedürfnisse liegen menschlichem Verhalten zugrunde?
  • Wie sind diese Bedürfnisse bei unterschiedlichen Menschen hierarchisch geordnet?
  • Was beeinflusst diese Hierarchie?
  • Was beeinflusst die Art, auf die jemand seine Bedürfnisse zu befriedigen versucht?
  • Was führt dazu, dass ein Mensch ein Bedürfnis brach liegen lässt oder verletzt, um ein anderes zu befriedigen?
  • Wie kommt es, dass Menschen Fehler begehen und anderen schaden können?
  • Wovor haben Menschen Angst?
  • Haben diese Ängste eine Hierarchie?
  • usw.

Dieser Teil macht v.a. die positiven und negativen Vorurteile bewusst, mit denen frau anderen Menschen so ganz im Allgemeinen gegenübertritt. Teil des Menschenbildes sind aber auch spezifische Vorurteile über einzelne Menschengruppen. Und die erkennen wir, indem wir uns unter Menschen begeben, uns z.B. eine beliebige Frau aussuchen, sie uns angucken und uns dabei fragen:

  • Was für eine Kategorie Mensch ist das?
  • Aufgrund welcher Merkmale ordne ich sie gerade dieser Kategorie zu?
  • Welche Motive, Ängste, Vorlieben, Träume, Verhaltensweisen, Meinungen etc. unterstelle ich dieser Frau damit ganz automatisch?
  • Wie stelle ich mir das Leben dieser Frau vor, ihre Wohnung, ihren Beruf? Wie geht sie mit ihren Freunden um? Wie denkt sie über andere Menschen? Wie verhält sie sich, wenn sie wütend oder verliebt ist? Wie reagiert sie auf Krisen? Wie tröstet sie andere? Was stößt sie ab, was zieht sie an?
  • Was würde mich überraschen, wenn ich es über diese Frau herausfinden würde? (möglichst etwas nicht allzu haarsträubendes)

Es fällt auf, dass unseren Vorurteilen ein kreativer Prozess zugrunde liegt.
Vielleicht haben wir die Vorurteile von jemandem übernommen (notorisch dafür: Serien und ‚Reality‘-TV), aber die Feinheiten und Details haben wir uns alle selbst ausgedacht. Wir assoziieren, konstruieren, fügen Teile zusammen, die in unseren Augen gut passen, jedoch ohne uns dessen so wirklich bewusst zu sein.
Wir sehen uns um, und jeder, den wir sehen, wird zu einem Charakter in der Erzählung unseres eigenen Lebens.
Wie vielschichtig, wie originell sind diese Charaktere? Wieviel Raum für Irrtum lassen wir zu? Sehen wir mehr als eine Möglichkeit/Motivation/Historizität, mit der wir dieses oder jenes an einem Charakter erklären können? Welche Rolle spielt unser allgemeines Menschenbild bei alldem? Wie eng ist es gefasst?

Das eigene Menschenbild erweitern und verfeinern
Kommen wir nochmal darauf zurück, dass wir in unserer eigenen Erfahrungswelt gefangen sind.
Dieser Umstand führt dazu, dass unser tatsächliches Wissen über andere Menschen begrenzt ist und wir nur hier und da einen Datenpunkt auf dem weiten weiten Spektrum des Individuum-Seins kennen. So ein löchriges Fundament ist nicht optimal. Also gehen wir los und suchen mehr Information darüber, wie bestimmte andere Menschen so sind.
Dabei kann frau erstmal ihren Fundus an Freunden, Bekannten und gemochten Kollegen ausschöpfen.
Ganz allgemein sind folgende Fragen – auf den jeweiligen Kontext hin formuliert – recht ergiebig und erhellend:

  • Warum möchtest du das?
  • Warum denkst du das?
  • Wie fühlt sich das an?

Spezifisch sähe das ungefähr so aus:

  • Was gefällt dir an deinem Beruf/Hobby/Haustier/Partner/diesem Buch/Film/Lied/…?
  • Was magst du daran am allermeisten? bzw. Was hat dich dazu hingezogen? Wie bist du darauf gekommen? Was magst du daran am wenigsten?
  • Ist das dein Lieblings-Xyz?

Da frau natürlich nicht immer Zeit zum Zuhören hat, bzw. wenn sie Zeit zum Zuhören hätte, gerade keiner da ist, dem sie noch nicht das Mark aus den Knochen gesaugt hat, kommt ihr zugute, dass sie ein Kind des 21. Jahrhunderts ist:
Teh Interwebz!!1!
Blogs und vLogs sind zwar als Müllhalden der Alltäglichkeit verschrien, aber für Autorinnen sind sie wahre Fundgruben. Denn neben der Alltäglichkeit gibt es tausende von Menschen mit speziellen Interessen, Lebensläufen, (Wahn)Vorstellungen, … die frei für alle sichtbar alles über sich erzählen.
Youtube, liebe Schreibkolleginnen, youtube ist eine Gabe der Göttinnen an uns. Wenn sie nur den richtigen Suchbegriff hat, kann frau sich dort von ungewöhnlichen Krankheitserfahrungen über Besonderheiten verschiedenster (Sub)Kulturen und Trauerstrategien bis hin zu anderleuts Menschenbildern und ihrer Idee von der Welt wirklich absolut ALLES ansehen. Alles. (Vorlesungen über Quantenphysik, Anleitungen für medizinische Untersuchungen, Do-it-yourself-Tips und tausend andere Sachen inbegriffen, über die man mal recherchieren müssen könnte.)
Das, liebe Kolleginnen, ist übrigens der wahre Grund dafür, dass wir alle von der fünften Klasse an Englisch lernen durften: Das englischsprachige Internet ist um mehrere Größenordnungen gewaltiger und reicher als das deutschsprachige – der Schlüssel zu dieser Schatzkammer ist m.E. durchaus die Investition in den einen oder anderen Sprachauffrischungskurs wert.

Das lebendige Menschenbild
Je mehr ihr euch mit anderen Menschen und eurer Vorstellung von ihnen auseinandersetzt, je mehr Menschen ihr zuhört, desto beweglicher wird eure Vorstellungskraft werden. Der Pool der Möglichkeiten, aus dem sich eure Charaktere speisen, wird immer größer und tiefer werden. Die Logik, die ihr hinter den Motiven und Entscheidungen der Anderen seht, die Klarheit, mit der ihr euch deren fremdes Erleben vorstellen könnt, all das wird solider werden.

Allerdings wird das nicht unbedingt ausreichen, um die ganzen -Inserts zu stoppen. Ein Glück, dass es genau dafür Strategien gibt! :D
Also, ich gehe mal davon aus, dass die Methode, die ich verwende, nicht die einzig mögliche ist. Ich stelle sie hier als Vorschlag vor und hoffe, dass sie der einen oder anderen dabei hilfreich sein kann, eine Zucht authentischer Charaktere aufzubauen.

Die gezielte Entfremdung
Jetzt wird es ein bisschen abstrakt, aber ich gebe mir Mühe. Danke.
Meiner eigenen Erfahrung nach ist das Problem, das -Inserts ganz unten zugrunde liegt, dass frau ihre Geschichte, ihre Charaktere (und ihre Leserschaft) nicht als explizit von sich (und ihren Erwartungen) verschieden erlebt. Alles befindet sich in einem Zustand der Stimmigkeit, aber diese ist nicht für jede Geschichte und jeden Charakter in sich geschlossen. Sie ist vielmehr eine Stimmigkeit mit der Autorin und ihrem eigenen inneren und äußeren Erleben.

Eine Möglichkeit, die Charaktere aus dieser Gebundenheit an das Erleben der Autorin zu lösen und in die relative Freiheit der bloßen Bindung an ihr offenes, allgemeines Menschenbild zu entlassen, besteht darin, ihnen explizit eine Komponente der Fremdheit zu geben. Jeder Charakter muss mit seiner Schöpferin brechen.
Das bedeutet, dass frau bewusst hingeht und jedem sympathietragenden Charakter auf jeder einzelnen Ebene, auf der er beschrieben wird, etwas gibt, das sie selbst so niemals tun würde. Lasst z.B. die Heldin eine Farbe tragen, die ihr selbst nicht gern anzieht; lasst sie Rezepte mögen, die ihr nicht gerne esst; mischt unter ihren Musikgeschmack etwas, das zwar reinpasst, das ihr selbst aber nie hören würdet; geb ihr eine Eigenschaft, die ihr an euch selbst oder an anderen nicht besonders mögt, usw.

Vielleicht macht ihr euch jetzt Sorgen, dass ihr eure Heldin nach dieser Behandlung nicht mehr so gern haben werdet. Das ist ein durchaus berechtigter Einwand.
Aber denkt mal an eure beste Freundin. Ist sie perfekt? Ist sie genau so, wie ihr sie gerne hättet? Ist sie immer eurer Meinung? Sicher nicht. Trotzdem ist sie eure beste Freundin und ihr liebt sie heiß und innig. Das gleiche gilt für eure Heldin. Sie wird ent-idealisiert, aber sie ist immer noch eure Heldin.

Wenn ihr Charaktere habt, von denen ihr wollt, dass eure Leser sie nicht mögen, geht hin und gebt ihnen auf jeder einzelnen dargestellten Ebene eine Eigenschaft oder Vorliebe, die ihr gut findet. Nagelt sie nicht darauf fest, ein sinnlos destruktives Element der Geschichte zu sein, sondern erlaubt ihnen Menschlichkeit. Lasst sie z.B. aus ihrer Sicht bemüht sein, das richtige zu tun, gebt ihnen ein Moment der Nachvollziehbarkeit, das sie lebendig wirken lässt.

Anfangs fühlt sich das sicher schematisch und gewollt an, aber diese Distanz, dieser kleine Jägerzaun, den ihr zwischen euch und eure Charaktere gesetzt habt, wird euch dabei helfen, ihnen eine eigene Dynamik zu gestatten. Je mehr ihr sie als jemand ‚anderes‘ erlebt, und je mehr Respekt ihr vor euren Charas als eigenständige Personen bekommt (anstatt sie als euer Spielzeug zu erleben, das ihr zurechtbiegt, wie es euch gefällt), desto lebendiger werden sie. Sie bekommen von ganz allein mehr Farbe, Dimension, Persönlichkeit, und eure Aufgabe als Autorin wird darin bestehen, ihnen zuzuhören, und nicht, sie von A nach B durch die Geschichte zu fahren.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ihr das Steuer völlig an eure Charaktere abgebt. Ihr setzt nur den Hebel anderswo an; statt sie direkt zu stutzen, formt ihr sie durch die Erfahrungen und Umstände, mit denen ihr sie konfrontiert.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass tatsächlich schon ein bisschen Entfremdung reicht, um eine ganze Kaskade von eigenständigen Entwicklungen der Charaktere loszutreten. Und das einmal in Aktion zu erleben hat mir gereicht, um die Sache völlig automatisieren zu können; sprich, meine ‚größeren‘ Charaktere sind mir vom ersten Entwurf an fremd und es kostet mich keine Mühe, ihnen diese Fremdheit zu lassen.
Ich hoffe, dass die Methode auch für andere so gut funktioniert :)

tl;dr
Charaktere sind ihren Schöpfern oft wie aus dem Gesicht geschnitten. Das macht sie auf Dauer eintönig und uninteressant. An dieser Stelle ist es hilfreich, mehr darüber zu lernen, wie andere Menschen tatsächlich funktionieren, und dieses Wissen bei der Charakterentwicklung zu nutzen. Um die Entwicklung von eigenständigen Charakteren zu fördern, kann es hilfreich sein, ihnen bewusst Eigenschaften zu geben, die frau als Autorin nicht besonders mag.

Ich hoffe, dieser lange lange Worterguss war erhellend für euch. Fragen und Ergänzungsvorschläge nehme ich jederzeit gerne entgegen.

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