Gut erzählt: Camus‘ Halb-Psychopath

/ März 4, 2013

Wie es mir schon bei ‚Die Pest‘ von Camus ging, hatte ich auch bei ‚Der Fremde‘ Probleme, in die Geschichte reinzukommen. Aber im Gegensatz zu ‚Die Pest‘ habe ich mich beim Lesen von ‚Der Fremde‘ die meiste Zeit gelangweilt. Allerdings hat das Buch da, wo es Spaß gemacht hat, extrem Spaß gemacht.
Deshalb das Gesamturteil ‚Gut erzählt‘.

Der Plot ist schnell zusammengefasst; sind ja auch nur 120 Seiten, die zu gefühlten 25% für Landschaftsbeschreibungen draufgehen: Ein junger, naiver Halb-Psychopath bringt jemanden um und wird vor Gericht gestellt. Weil er nicht so tut, als hätte er soziale Gefühle, wird er zum Tode verurteilt. Fin.
Individual-, sozialpsychologisch und moralisch ist die Geschichte trotzdem erstaunlich gehaltvoll. Dazu habe ich einiges zu sagen, aber zuerst will ich mal das Formale abhandeln.

1. Titel
‚Der Fremde‘ heißt im Original ‚L’Étranger‘ und ich denke, die Übersetzung ‚Der Sonderbare‘ oder ‚Der Andersartige‘ wäre passender gewesen.
Meursault, der Ich-Erzähler, ist kein Fremder, sondern nur fremdartig, und das nichtmal in dem Maße wie seine Ankläger später behaupten. Das ist zwar nur eine Nuance Unterschied, aber sie ordnet Meursault korrekter auf dem psychologischen Spektrum ein und gibt auch besser die Art und Weise wieder, wie sich Meursaults Freunde zu ihm in Beziehung setzen.

2. Stil
Was den Stil angeht, bin ich nicht so begeistert.
‚Der Fremde‘ ist ein klarer Fall von konsequent durchgezogener ‚Form <=> Funktion‘. Das heißt, der sprachliche Aufbau der Geschichte reflektiert den psychischen Zustand und das Erleben des Charakters. An sich eine gute Sache.
Meursaults Erleben ist nur leider durch Brüche gekennzeichnet. Er erlebt das Verhalten von Menschen oft als abgehackte, disjunkte Folge von Handlungen („Er tat x. Er tat y. Er tat z.“). Gelegentlich äußert er zwar seine Vermutungen zu den Motiven seiner Mitmenschen, aber er wirkt insgesamt sehr wie ein Behaviourist, der nur den Input und Output der Black Box (der menschlichen Psyche) beobachtet. Das liegt natürlich daran, dass in seiner eigenen Black Box so gut wie nichts passiert, aber es führt dazu, dass die Nebencharaktere ebenfalls bruchstückhaft bleiben.
Meursault klinkt sich außerdem oft aus Interaktionen aus, bzw. berichtet, dass er sich nicht erinnert, was zwischen zwei Momenten geschehen ist. Seine Gesprächspartner werden meistens in indirekter Rede wiedergegeben; t.w. wird auch komplett unterschlagen, was gesagt wurde. Meursault ist einfach schnell von anderen Menschen gelangweilt – auch davon, über sich selbst zu reden – und seine körperlichen Empfindungen nehmen ihn gern mal zu sehr in Anspruch als dass er sich noch auf etwas anderes konzentrieren könnte.
Fließende Übergänge von Ereignissen und Sätzen gibt es nur da, wo Meursault eine Umwelt beobachtet, in der er sich wohlfühlt. Außerdem geht Camus so weit in die Form des Stream-of-Consciousness hinein, dass er gern mal auf Absätze verzichtet; das heißt, er trennt einzelne Gedanken nicht immer strukturell voneinander ab, auch wenn sie inhaltlich nichts miteinander zu tun haben.
Das Abgehackte ist also in der Hauptsache ein bewusst eingesetztes Stilmittel, aber da ‚Die Pest‘ auch relativ abgehackt formuliert ist, bin ich geneigt, es zu mindestens 30% als zur Tugend gemachte Not zu sehen. Camus hat ein paar echt nette Sätze drin, aber ansonsten ist er wohl einfach nicht so der große Formulierer.
Was mich am Stil richtig gestört hat, war die teils ungeschickte Umsetzung des Ich-Erzählers. Camus benutzt oft den Aufbau „Ich bemerkte…“ oder „Mir fiel auf…“ In manchen Momenten ist das eine effektive Entscheidung („Ich bemerkte, dass ich Lust hatte zu rauchen.“), aber er benutzt sie zu oft, und nicht aus Mangel an Alternativen.

Insgesamt wirkt die Geschichte durch diesen Stil freischwebend. Die fehlenden kausalen Zusammenhänge in Meursaults Beschreibungen und seine Unfähigkeit in vielen Situationen gedanklich involviert zu bleiben, lösen das Geschehen in einzelne Bruchstücke auf. Zusammengehalten wird alles nur durch den Fakt, dass Meursault der einzige Erzähler ist. Sein Bewusstsein ist die Bühne, über die die Inhalte wie kleine kantige Felsen poltern.
Das deckt sich wunderbar mit Meursaults Platz im emotionalen Gefüge der Gesellschaft: Frei schwebend und nur bruchstückhaft anwesend. Es ist nur – für mich – unbefriedigend und nicht so angenehm zu lesen.

3. Charaktere
3.1 Meursault
Camus hat die Perspektive von Meursault extrem gut umgesetzt. Ich hab extra nachgeguckt, ob er die Psychopathy Checkliste von Hare schon gekannt hat, aber als das Buch geschrieben wurde, war Hare grad erst in der Schule. Mir imponiert es immer, wenn es einem Autor gelingt, ein ihm fremdartiges Erleben punktgenau und ohne jeglichen akademischen Input zu konstruieren. Es zeigt geistige Flexibilität und die Fähigkeit, die richtigen Fragen an das eigene Erleben zu stellen.
Offiziell haben ‚die Psychopathen‘ erst mit Hannibal Lecter Einzug in die populäre Kultur gehalten, und so sehr ich Hannibal mag, er hat auch den Mythos erzeugt, dass Psychopathie notwendigerweise Sadismus beinhaltet. Aber das ist nicht der Fall. Psychopathie und Sadismus sind zwei separate Diagnosen, und Psychopathen haben keine höhere Rate von Sadismus als die nicht-psychopathische Population.
Wenn Psychopathen plündernd und brennend durch die Gesellschaft ziehen, dann nur weil sie nicht verstehen, dass daran etwas falsch ist, und nicht weil es ihnen Spaß macht, anderen Menschen Leid zuzufügen. Sie begreifen nicht (oder nicht so ganz), dass andere Menschen tatsächlich Gefühle haben; wie auch, sie haben ja selbst kaum welche.

Leider verzichtet Camus konsequent darauf, irgendwelche erzählerischen Umwege zu machen, nur um Meursaults Innenleben klarer darzustellen. Laut der Wiki verwendet er andere Charaktere, die er in Kontrast zu Meursault stellt, um dessen andersartige Eigenschaften zu zeigen, aber für mich haben die Nebencharas eher bloßgestellt, wie psychopathisch psychotypische Leute unterwegs sein können, und wie unfair es ist, dass auf sie nicht mit noch größerer Abscheu reagiert wird als auf Meursault (Details weiter unten).
Ich weiß nicht, inwieweit man (oder auch ich selbst) Meursault ohne jede Vorbildung in Psychologie allgemein und Psychopathy insbesondere verstehen könnte, und ich begreife auch nicht so ganz, warum die Geschichte als Paradestück der Absurdistischen Literatur verstanden wird. Sicher, Meursault zeigt die Amoralität der Welt, die im Gegensatz zum typisch menschlichen Verlangen nach inhärenten Werten steht, aber mir sticht mehr der Aspekt der pessimistische Gesellschaftskritik ins Auge. ‚Der Fremde‘ ist für mich ein Plädoyer für Toleranz gegenüber asozialen Menschen (asozial =/= antisozial!) und die Bloßstellung der moralischen Ekelhaftigkeit der Psychotypischen.

3.1.1 Meursaults Moral
Es gab beim Lesen zwei Momente, in denen sich meine Gefühle für Meursault drastisch geändert haben.
Der erste war, als es um seinen Nachbarn, Salamano, ging; dieser Nachbar hat einen Hund, den er (der Nachbar) regelmäßig misshandelt. Meursault äußert darüber keine Gefühle. Das Thema setzt sich damit fort, dass Meursault seinem anderen Nachbarn dabei hilft, dessen finanziell betrügerische Ex-Freundin ins Haus zu locken, so dass dieser sie demütigen kann. Die Information, dass dieser Nachbar seine Ex öfter mal geschlagen hat, lässt Meursault ebenfalls kalt, und als die Ex hörbar vermöbelt wird, hält er sich raus, obwohl seine eigene Freundin, Maria, sichtbar betroffen reagiert.
Da ging mir aber sowas von die Hutschnur hoch! Wie kann einem nicht die Hutschnur hochgehen, wenn man mit unnötiger, sadistischer Gewalt konfrontiert wird, ausgeübt von einem Menschen, dem theoretisch das emotionale Werkzeug zur Verfügung steht, das zur Erkenntnis seines Fehlverhaltens notwendig ist? Aber Meursaults Hutschnur bleibt beharrlich sitzen.
Der zweite Moment war, als ich verstanden habe, warum das so ist.
Meursaults Vorstellung von Moral besteht aus drei Kategorien:

  • Dinge, die okay sind;
  • Dinge, die falsch sind;
  • Dinge, die irrelevant sind.

Absolut alles ist entweder okay, falsch oder tut nichts zur Sache. Es gibt nichts dazwischen, keine Relationen, keine Hierarchie. Allerdings gibt es einen Modifier: Etwas falsches kann okay werden, wenn es durch vorausgegangenes falsches Verhalten ‚verdient‘ wurde.
Das alles wird an mehreren Stellen sehr eindrucksvoll demonstriert. Zum einen kommt die Idee, dass etwas ‚falsch‘ sein könnte, nur dann ins Spiel, wenn es um die Frage geht, ob man bei einer Totenwache rauchen darf, oder darum, zwei Menschen gegenüber auf den gleichen Kommentar mit der gleichen Aussage zu reagieren (Meursault lehnt es ab, sich zu wiederholen). Zum anderen findet Meursault, dass ein gewisser, lang verschollener Kerl es verdient hatte, von seiner Mutter und seiner Schwester mit einem Hammer erschlagen zu werden (um an sein Geld zu kommen), weil er sich ihnen gegenüber ja immerhin als jemand anderer ausgegeben hat, und sowas tut man nicht.
Das bedeutet, dass Meursault einen gewissen Fairnessbegriff hat, auch wenn er insgesamt nicht dazu neigt, tiefergehend über moralische Fragestellungen nachzudenken.

Meursault hat keinerlei Konzept vom Leid anderer Lebewesen, was verhindert, dass er ihnen ein schützenswertes Recht auf das Nicht-Leiden zugestehen kann, aber er hat keinen Antrieb, einem anderen Lebewesen ohne konkreten Anlass Leid zuzufügen.

3.1.2. Meursaults Bindungen
Wo psychotypische Menschen ein Bindungssystem haben, hat Meursault Interesse oder Desinteresse. Er interessiert sich für Menschen, die er unterhaltsam findet oder die ihm in anderer Weise angenehm sind, und das ist es, was ihn den Kontakt suchen lässt.
Maria zum Beispiel ist für ihn ein Ding bestehend aus hübschen Brüsten, hübschen Kleidern und einem hübschen Lachen, mit dem man praktischerweise auch noch Sex haben kann (dem Ding, nicht dem Lachen :P). Er gibt nichtmal vor, sie zu lieben, auch nicht als sie ihn direkt danach fragt – er hat aber nichts dagegen, sie zu heiraten, wenn sie es denn unbedingt will. Wäre Maria tot, würde sie ihn nicht mehr interessieren, weil er dann nichts mehr mit ihr zu tun haben könnte. Er sagt das explizit.

3.1.3. Warum Meursault nur ein Halb-Psychopath ist

  1. Meursault ist ganz allgemein ehrlich (es sei denn, man bittet ihn, zu lügen). Nicht brutal ehrlich – denn dazu müsste er verstehen, dass andere Menschen Leid empfinden können – sondern einfach nur ehrlich. Er lügt nichtmal, um seinen Arsch zu retten. Ein voll ausgewachsener Psychopath lügt auch ohne Grund. Nur so. Weil… pfsh, die Wahrheit sagen… nenn mir einen guten Grund, nur einen.
  2. Meursault hat auch kein Interesse daran, sich bei anderen beliebt zu machen. Er schweigt, wenn er denkt, dass seine ehrliche Antwort ‚falsch‘ wäre, aber er sieht es nicht als falsch an, jemandem zu sagen, dass er kein Interesse an ihm hat. Das führt dazu, dass Meursault verschlossen und herzerweichend uncharmant rüberkommt. Im Gegensatz zum typisch Vollpsychopathen.
    Andere Menschen und ihre Sympathien sind ein Mittel für Psychopathen, um ihre Ziele zu erreichen. Meursault hat nichtmal Ziele, die er erreichen wollen könnte. Außer vielleicht, in Ruhe sein Leben zu leben (worauf ich jetzt sagen würde „Dann knallt man aber besser keine Leute ab…“, aber in dem Punkt scheitert Meursault wohl einfach an sich selbst).
  3. Meursault kann anscheinend recht manipulativ sein wenn er will, aber er nutzt diese Fähigkeit nicht – im Gegensatz zum Vollpsychopathen. Aus Desinteresse, würde ich sagen. Mich verwundert allerdings, wie Camus diesen Aspekt ausgestaltet hat.

3.1.4. Meursaults fatales Desinteresse
Auf der einen Seite ist Meursault sehr aufmerksam. Er bemerkt sprachliche Besonderheiten seiner Mitmenschen und spekuliert über die Bedeutung, die dahinter stecken könnte (z.B. dass sich der Pförtner des Altenheims, obwohl im gleichen Alter wie die ‚Insassen‘, nicht als derengleichen versteht, weil er von ’sie‘ und ‚die‘ spricht, und nicht von ‚wir‘, und dass er sich daraus folgend wohl hierarchisch über den Insassen platziert). Er analysiert auch das Verhalten der Insassen bei der Totenwache seiner Mutter und das Verhalten der Gruppen, die unter seinem Balkon lang laufen – und führt letzteres darauf zurück, welchen Film sie eben im Kino gesehen haben.
Gleichzeitig scheint er aber nicht mitbekommen zu haben, dass sich dieses Verhalten nicht immer mit seinem eigenen deckt (mehr dazu weiter unten), dass andere Aussagen machen, die nicht mit emotionaler Ungebundenheit vereinbar sind, und dass es da so ein Rechtssystem mit einer Option auf Todesstrafe für schweren Mord gibt.
Camus erklärt diesen Widerspruch dadurch, dass sich Meursault für gewisse Dinge schlicht nicht interessiert und sie entsprechend ausblendet. Ein Stück weit kann ich dieser Argumentation folgen; immerhin kann das menschliche Gehirn blinde Flecken von erschreckender Größe erzeugen. Aber Meursaults blinder Fleck ist sowas von absolut gigantisch… Und selbst wenn wir noch Desinteresse dazu nehmen: Es gibt eine Szene, in der Meursault die berufliche Weiterentwicklung verweigert, weil er zufrieden ist, wie er ist. Aber die Veränderung, die damit einhergeht, dass man jemanden erschießt und dann nichtmal versucht, abzuhauen, die interessiert ihn nicht?
Leider wird über die Umstände von Meursaults Festnahme kein Wort verloren, und der Mann ist zu lethargisch, um sich wirklich darüber zu ärgern, dass er jetzt im Knast sitzt. Er bringt aber genügend emotionales Engagement auf, damit ihm der Knast so unangenehm wird, dass er eigentlich nicht darüber sprechen will.
Trotzdem (!) bezeichnet er sich selbst weiterhin als glücklich. Respekt.

3.1.5. Aber vollkommen normal!
Wie oben schon angedeutet hält Meursault sein Erleben und Verhalten für absolut normal. Er ist in der Tat so dermaßen davon überzeugt, dass alle so sind wie er, dass er zum einen das diskriminierende Label des ‚Verbrechers‘ nur mit Anstrengung übernimmt, und zum anderen total schockiert ist (naja, so schockiert wie Meursault nunmal sein kann) als man ihm sagt, dass es nicht normal für einen Verbrecher ist, nicht in Tränen auszubrechen, wenn man ihm einen toten Kerl am Stock vor der Nase rum wedelt und darüber predigt, dass der ja wohl auch für deine Sünden gestorben ist, sei gefälligst dankbar, nimm Zuflucht bei Gott, Halleluja, Amen.
In der Tat erträgt Meursault es nicht, auch nur über diese Diskrepanz nachzudenken. Abnormal sein – Meursaults Kryptonite.

3.1.6. Der Mord
Ach, der Mord… Irgendwie…
Es ist schon alles konsistent soweit; Meursault hatte vorher darüber geredet, einen zu erschießen, wenn er aufmuckt (allerdings nur, damit der Prügelnachbar nicht selber voreilig schießt), das heißt, Reste von dieser Verhaltensanbahnung können noch aktiv gewesen sein, so dass sein sonnengebratenes Hirn diesem Pfad später ohne größeren Anlass gefolgt ist (dass sein Gegenüber ein Messer zückt, ist kein Grund, gleich zu schießen). Außerdem ist Meursault kein Pazifist und hat nichtmal eine tragfähige Vorstellung davon, was mit Mördern üblicherweise passiert – oder dass er ein Mörder wird, wenn er jemanden ermordet.
Außerdem ist ja der Punkt der Erzählung, dass Meursault keinen besonderen Grund braucht, um etwas zu tun, für das andere tonnenweise in- oder extrinsische Motivation brauchen, und dass er nachher auch keine Probleme hat, damit klarzukommen.
Aber ich finde den erzählerischen Ablauf auch vor dem Hintergrund unbefriedigend.

3.1.7. Die Todesmaschine
Wenn Meursault über seine Hinrichtung nachdenkt, geschehen merkwürdige Dinge. Auf einmal empfindet er seinen Tod als etwas, das eine zu große Sache ist, um von bloßen Menschen hergeurteilt und ‚im Namen des Volkes‘ verkündet zu werden. Der Guillotine auf ebener Erde entgegenzutreten, anstatt auf einem Podest wie noch zu Zeiten der Revolution, das erscheint ihm nicht richtig. Ihm, dem normalerweise alles vollkommen gleichgültig ist.
Möglich, dass das wieder sein körperliches Erleben ist, das ihn in Anspruch nimmt, das Erleben an sich, von dem er nicht will, dass es aufhört. Schon gar nicht, ohne dass er eine Chance hatte, sein Schicksal abzuwenden. Auf jeden Fall wird er leidenschaftlich.
Und dann kotzt er dem Priester auf die Schuhe. Ich gebe ehrlich zu, ich verstehe nicht so ganz, was Meursault da genau von sich gibt. Er spricht von Gewissheit und dass er verdammtnochmal sein Leben gelebt und Entscheidungen getroffen habe, und da ist er nun, und was weiter? Alle sterben mal und der Wert eines Lebens ist nur zugeschrieben. Die Welt ist gleichgültig. So gleichgültig wie Meursault. Und darin findet er sich wieder, und findet er Frieden. Das Sahnehäubchen wird sein, wenn ihn eine Menschenmenge anschreit, während er zur Guillotine geführt wird, denn dann würde er sich weniger allein fühlen.
Cool story, bro.
Ein bisschen musste ich an Grenouille denken, der am Ende Erfüllung nur im Hassen und Gehasstwerden finden kann und sich von einer Menschenmenge auffressen lässt. Aber Meursault hasst ja nicht, und er mag es auch nicht, gehasst zu werden. Vielleicht hat sich das geändert? Vielleicht ist der Aufruhr der Masse, die sich an genau der Tat aufgeilt, für die sie ihn so verabscheut, das strahlendste Zeichen dafür, dass das Universum eine moralfreie Zone ist und sich einfach nicht dafür interessiert, wem was passiert?
Das klingt logisch, aber ich weiß es nicht.

3.2 Die Nebencharaktere
Laut Wiki ein Mittel zur Unterstreichung von Meursaults Absonderlichkeit, laut mir die Entlarvung einer total atzigen, von Doppelstandards und Perversion gezeichneten, pseudo-hyper-moralischen Gesellschaft.
Denn die Nebencharaktere sind ganz offensichtlich in der Lage, sich sozial gefühllos zu verhalten – ohne den mildernden Umstand, tatsächlich nicht in der Lage zu emotionaler Bindung zu sein.
Maria zum Beispiel lacht über die Geschichte mit dem gequälten Hund. Ihr moralisches Empfinden schaltet sich erst ein, als es um ihresgleichen geht. Aber als sie dann später eingeladen wird, mit dem Prügelnachbarn, Meursault und zwei anderen Freunden an den Strand zu gehen, hat sie keinerlei Einwände. Kein „Ich umgebe mich nicht mit Schlägern.“, kein „Ich fühle mich nicht sicher in dessen Gegenwart.“ und kein „Wie kannst du mit so einem Ekel befreundet sein?!“ Nein, sie geht mit an den Strand und hat Späße.
Salamano wiederum ist ebenfalls gut in der Lage, sich emotional zu binden, weist aber die Pathologie auf, das Objekt seiner Bindung – seinen Hund – so richtig richtig scheiße zu behandeln. Und als das arme Tier flieht, weint der alte Mann und weint, „Was soll denn nun aus mir werden?“ Wie wäre es mit einem Nicht-Tierquäler?
Der Prügelnachbar prügelt seine (Ex-)Freundin und findet das völlig gerechtfertigt, wird dafür aber lediglich ermahnt und sein Ansehen leidet mehr darunter, dass er Zuhälter ist, als unter dem Fakt, dass er diese Frauen auch noch misshandelt.

Diese Dreisechzehntel-Psychopathen zeigen genügend sozialkonformes Empfinden und Verhalten, damit man ihnen nachsieht, dass sie trotz ihrer sozialen Fähigkeiten gelegentlich absolut antisozial fühlen, denken und handeln.
Meursault, der nicht einmal so tut, als wäre er zu sozialen Empfindungen fähig, wird hingegen als Affront erlebt, als Schlag ins Gesicht der Menschlichkeit.
Das ist ableistisch (diskriminiert Menschen mit Behinderung) und lässt denjenigen freie Hand, die sich trotz ihres Nicht-Behindertseins so verhalten als wären sie es. Wenn ihr mich fragt, finde ich diese moralischen Aussetzer abstoßender als Meursaults durchgehendes Defizit. Es ist eine Sache, überhaupt keine (moralischen) Beine zu haben, und eine andere, sie in gewissen Situationen zum Schaden anderer nicht zu benutzen.

Aber für viele psychotypische Menschen ist es anscheinend schwer nachzuvollziehen, dass ein Unterschied besteht zwischen der Unfähigkeit zu sozialen Empfindungen und dem böswilligen Verzicht auf Respekt vor den Rechten anderer (v.a. dem Recht, nicht unnötig zu leiden).
Man sieht es nicht gern, wenn sich Menschen nicht binden. Es wird als Gefahr erlebt. Das ist an sich durchaus angemessen, denn auf der emotionalen Bindung basiert ein Großteil des menschlichen Moralempfindens, das wiederum notwendig ist, um eine gewaltarme Gesellschaft aufrechtzuerhalten: Wenn ich erkenne, dass Werte und Moral reine Konstrukte ohne Äquivalent in der außerhalb des menschlichen Bewusstseins existierenden Welt sind (Nihilismus/Absurdismus), halten mich nur Mitgefühl und/oder die Angst vor dem Verlust meiner emotionalen Bindungsobjekte davon ab, den perfekten Mord nicht nur zu planen, sondern auch zu begehen. Ohne dieses Mitgefühl und diese emotionalen Bindungen bleibt dann nur noch die willkürliche Entscheidung, anderen Menschen Rechte zuzugestehen; eine Entscheidung, die jederzeit ohne großes Prozedere zurückgenommen werden kann.
Es geht also eine Gefahr von emotional nicht gebundenen Menschen aus, aber allein die Gefahr macht sie noch nicht böse oder abscheulich. Nur versteht das weder der Dreisechzehntel-, noch der Nicht-Psychopath, und anstatt den Halb- oder Voll-Psychopathen sicher verwahrt sein Leben in Würde zuende leben zu lassen, werden ihm Hass und Ekel nur so entgegen gespuckt. Als wäre es böswillige Absicht, dass diese Menschen keine emotionalen Bindungen aufbauen.

Ich geh an dieser Stelle mal nicht näher darauf ein, warum ich jetzt an Asimov denken muss, aber wen es interessiert, der möge hier klicken und sich eigene Gedanken dazu machen.

Fazit:
Endlich mal ein Buch über einen nicht-klischeeüberladenen Psychopathen! Und das, wenn sich die Urwerke eines Genres üblicherweise wie der letzte Abklatsch lesen, weil die ganzen jüngeren Werke bei ihnen abgekupfert haben (ich sag nur Matheson, mein lieber Scholli!). Das war wirklich erfrischend.
Einziger Negativpunkt sind die laaaangweiligen Landschaftsbeschreibungen (und Situationsbeschreibungen, die den Plot nicht vorantreiben – weil die Geschichte nicht plotgetrieben ist, d’uh, aber laaaangweilig).

Was lernen wir als Autorin daraus?
Erzählerisch hat mich ‚Der Fremde‘ erstmal ziemlich verunsichert. Wie das immer so ist mit Büchern, die sehr deutlich zeigen, anstatt zu erklären. Ich bin eine Freundin des ‚Zeigen statt Behaupten‘, aber ‚Zeigen statt Erklären’…
Ich frage mich, ob ich meine Charaktere in Grund und Boden erkläre, ob ich ihnen sozusagen die Eingeweide rausreiße, um sie hübsch in einer Auslage zu drapieren. Aber ich erkläre ja nicht wirklich, nicht von außerhalb. Die Charaktere erklären sich selbst, durch ihre detaillierten Gedanken, ihr detailliertes Erleben.
Vielleicht Zeige ich Detailliert, anstatt zu Erklären?
Ich finde das Skizzenhafte von ‚Der Fremde‘ jedenfalls reizvoll, wie ich auch das Durchbrochene von ‚Der Virtuose‘ reizvoll finde. Ich denke, ich würde gern mal so schreiben, aber ich habe keine Ahnung, ob ich das für mehr als eine Kurzgeschichte durchhalten könnte.

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