Die Geheimwaffe für effektiveres Überarbeiten: Text-To-Speech

/ März 12, 2016

Im Leben jede_r Autor_in kommt der Zeitpunkt, an dem s_ie das komplette Ding nochmal drüberlesen muss.
Wenn du so bist wie ich, kommt dieser Zeitpunkt häufiger, und wenn du sehr so bist wie ich, dauert das jedes mal ewig und kostet unglaublich viel Energie, weil du es nicht lassen kannst, ständig irgendwas umzuformulieren und dich in Details zu verlieren.

Überhaupt auf Text-to-Speech bin ich gekommen, da ich (zudem noch) das Problem habe, dass ich nicht mehr gut am Computer lesen kann. Es saugt mir die Energie aus dem Hirn, fragt mich nicht warum, ich habe keine Ahnung. Jedenfalls stolperte ich irgendwann zufällig über den Fakt, dass mein Computer vorlesen kann, und eine Welt, die sich mir weitgehend verschlossen hatte, wurde wieder zugänglich.
Auch die Texte, die ich selbst schreibe, lasse ich mir vorlesen. Und so begab es sich…….

Nein, Moment, ehe ich die Segnungen des TTS besinge und mein eigenes Setup vorstelle, lasst mich den Einwand aus dem Weg räumen, der euch garantiert gerade durch den Kopf geht:

Wie bitte soll es meine Seele überleben, wenn Stephen Hawking meine Story runterleiert und jedes dritte Wort falsch ausspricht?

Ja, ich weiß, eine Computerstimme ist nicht gerade das Leben der Party, aber bedenkt das Folgende:

  • Buchstaben sind auch nicht das Leben der Party, und genau so wie du beim Selberlesen das Leben mental hinzufügst, kannst du es beim Hören einer Computerstimme hinzufügen.
  • Es gibt ein großes Qualitätsspektrum, was generierte Stimmen angeht. Allein das Angebot in den Systemeinstellungen meines Mac bietet sowohl überraschend ‚echt‘ klingende, als auch absolut unerträglich ruckelige Stimmen an. Stephen Hawkings Stimme mag ikonisch sein, aber sie ist bei weitem nicht die einzige, die uns (auch für kleines oder gar kein Geld) zur Verfügung steht.
  • Es ist zu einem großen Teil eine Frage der Gewöhnung und der Einlassung. Die Stimme, die ich jetzt auf meinem Handy installiert habe, hörte sich ursprünglich sehr merkwürdig und glucksend an (mein Mann meinte: „Das klingt ja furchtbar!“), aber mittlerweile klingt sie für mich völlig okay und ich höre ihr ohne Probleme stundenlang zu.
  • Zumindest der Stimme, die ich jetzt auf meinem Handy installiert habe, kann ich die Aussprache vieler Worte beibringen, und es würde mich sehr wundern, wenn das bei anderen nicht auch so wäre.

Die Segnungen des TTS

Es begab sich also, dass ich Das Prinzip der Schönheit als .epub exportierte und mir von meinem Handy vorlesen ließ. Dabei machte ich mir Notizen zu Dingen, die ich ändern will, und nach drei Tagen hatte ich die ganzen ~400 Seiten durch und war so… WHOAH!!!!

Erste Segnung des TTS: Kein Verstricken mehr in nebensächlichen Details
Wenn man den Text nicht vor Augen liegen hat, sondern ’nur‘ anhört, fallen einem nebensächliche Details nicht mehr so auf. Sicher, ein unpassendes Wort stößt einem auf und man notiert es sich zur späteren Änderung, aber so richtiger Kleinscheiß, den wirklich außer de_r eigenen inneren Pedant_in niemand bemerkt, bleibt unter dem Radar (wo er hingehört!).

Zweite Segnung des TTS: Szenen in Echtzeit
Dadurch, dass man nicht mehr von Kleinscheiß von der eigentlichen Arbeit abgehalten wird, erlebt man seine Geschichte nicht mehr gestückelt und in Super Slow-Mo (der Kontrast ist erschreckend), sondern annähernd in Echtzeit, wie sie auch eine Leser_in erleben würde.
Szenen, die einem immer super lang und gemütlich betempot vorgekommen sind, weil man bei jedem Lesen eine Stunde oder mehr damit zugebracht hat, doch noch wieder Sätze umzuformulieren, darüber zu grübeln, ob man dieses oder jenes vage mit der Szene zu tun habende Ding jetzt so oder so mit dieser oder jener anderen Szene verknüpfen soll, von Hölzchen auf Stöckchen zu kommen, noch zu einer anderen Szene rüberzuscrollen, um was nachzugucken, dann daran hängen zu bleiben, irgendwann nicht mehr zu wissen, was man eigentlich hatte tun wollen, und so weiter und so fort.
Ähhh… jedenfalls solche Szenen erlebt man plötzlich in ihrem tatsächlichen Tempo, und das ist echt mal eine ganz neue Erfahrung.
Das gleiche gilt für die Geschichte als Ganzes. Statt mehrerer Monate nur drei Tage fürs Durchgehen einer Story zu brauchen, zeigt einem das wahre Tempo, den wahren Impact, den Momente oder Entwicklungen auf d_ie Betrach_terin haben, und bringt einen näher an einen objektiven Blick heran.

Dritte Segnung des TTS: Vertipper und Satzumbaurelikte
Es gibt so Fehler, die findet kein Rechtschreibprogramm. Mir/mit, die/dich, sagt/sagte, sie geht sie zur Tür, zu um sich zu vergewissern… Und man selbst überliest solche Stellen auch viel zu leicht. Werden sie aber vorgelesen springen sie einem sowas von ins Ohr und man kann sie ausmerzen.

Mein Setup:

An meinem Rechner verwende ich die mitgelieferte TTS-Funktion. Das ganze könnte noch eine Spur komfortabler in der Bedienung sein (mein Shortcut funktioniert z.B. nur, wenn ich die Systemsteuerung offen habe und wenn ich zwischen deutschen und englischen Texten switche, wird das nicht automatisch erkannt), aber ich bin wirklich sehr glücklich damit.

Mein Handy (mit Android drauf) habe ich mir mit den folgenden Programmen eingerichtet, die es im Google Play Store gibt:

Vocalizer (das ist sozusagen das Framework für die Vorlesestimmen)

Die deutsche und die englische Stimme von Vocalizer Man kann Vocalizer-Stimmen die Aussprache vom Fremdwörtern beibringen, auch wenn es manchmal ziemlich knifflig ist.

Moon+ Reader der die Vocalizer-Stimmen zum Vorlesen verwendet (die Trial-Version ist praktisch nicht eingeschränkt, aber diese App ist den kostenlosen Varianten so derart überlegen und so durchdacht, die ist in meinen Augen schon was wert, sofern man sie häufiger zu nutzen gedenkt). Achtung, mit den Einstellungen von Moon+Reader kann man sich stundenlang beschäftigen…

Der Moon+ Reader kann auch einfache .pdf-Dateien vorlesen, also man braucht sein Zeug nicht zwingend als .epub oder .mobi zu exportieren, aber das Handling ist einfacher, wenn man ein eBook-Format verwendet, weil .pdfs von der Importfunktion von Moon+ etwas stiefmütterlich behandelt werden. Der Reader merkt sich aber auch in .pdfs die Stelle, an der man war, und man kann auch Lesezeichen setzen, die erhalten bleiben, wenn man ein eBook durch eine geupdatete Version ersetzt.

Fazit:

TTS erlaubt eine Tiefenreinigung des Textes auf Buchstabenebene, ohne dass man jedoch von Kleinscheiß abgelenkt wird. So kriegt man in sehr kurzer Zeit sehr viel getan und entwickelt auch noch ein realistischeres Gefühl für das Tempo der eigenen Story.
Mein Handy ist für kleines Geld zu einer magischen Überarbeitungswaffe geworden, die mich sehr glücklich und um Größenordnungen produktiver gemacht hat.

Ich kann echt jede_r Aut_orin, deren Überarbeitungsprozess jedes mal gefühlte tausend Jahre frisst, nur ans Herz legen, das mal auszuprobieren.

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