Die Bettlerin (Eat The Rich)

FSK 16 - Triggerwarnung

Blut, Gewalt

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Kälte. Das ist ihr einziger Eindruck, die einzige Empfindung, die an ihr Bewusstsein rührt. Das Beißen, wo der Wind in ihre löchrigen Handschuhe dringt. Die Taubheit, wo sie früher am Tag in eine Pfütze getreten ist und das gefrierende, plattgelaufene Futter ihrer Stiefel an ihren Zehen kleben.
Sie atmet ein Wölkchen aus. Wischt sich ihre eisig stechende Nase. Und das Rascheln der zerknüllten Zeitung in den Ärmeln ihrer schmutzigen Jacke gleitet wie Stille von ihr ab.
Ein Zittern überläuft sie.
Und dann, plötzlich, ist da noch etwas anderes. Etwas, das erst fremd erscheint, denn sie hat es lange nicht mehr gespürt – seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr.
Mit einem Ruck erwacht sie aus ihrer Kältestarre. Hebt den Kopf.
Eine Dringlichkeit, ein Rufen, wo so lange schon nichts mehr gerufen hat.
Ächzend stützt sie sich an der Mauer ab, um sich aus ihrer Hocke zu erheben. Spürt kaum ihre Knie, als sie sie langsam streckt. Ihr schwindelt, doch die Mauer gibt ihr Halt. Die Mauer und das Rufen, das keinen Klang hat.
Sie zwingt ihre gefühllosen Ohren, sich der Welt zuzuwenden und lauscht in die Nacht hinaus.
Da geht jemand knirschend durch den frisch gefallenen Schnee. Doch das ist nicht der Grund für ihr Erwachen, auch wenn sie, seit sie vor zehn Jahren ihr Augenlicht verlor, so gut hört, dass sie auf fünfzig Meter Entfernung einen Polizisten erkennt, einzig am Dröhnen der Übermacht in seinen Schritten.
Sie reckt die Nase in den Wind.
Da ist ein breiter Geruch unter seinem Schneiden. Doch auch er ist nicht der Grund für ihr Erwachen, auch wenn ihre Nase so fein geworden ist, dass sie die Selbstverständlichkeit der letzten drei Mahlzeiten einer Passantin riechen kann, so kurz vergangen, dass selbst die Vorletzte noch in ihrem Atem hängt.
Sie öffnet die Augen.
Und sie, Graustar-Hanni, die in der Nacht nicht den Mond erkennt, kann plötzlich die Wärme eines menschlichen Körpers sehen. So wie man an einem Sommertag durch geschlossene Lider die Sonne sieht.
Ja, da ist Wärme. Und dieses Wort, dieses schwere, bedeutende Ding, füllt nun ihr ganzes Bewusstsein aus. Denn Wärme ist Leben, und wenn sie es recht bedenkt, hat sie nicht vor, der Welt diesen Winter schon Adieu zu sagen.
Was genau sie tun will, weiß sie nicht, als sie sich taumelnd aufmacht, dem roten Glühen zu folgen. Als wäre sie in diesem Moment mehr eine Motte, denn ein Mensch, die ohne Sinn und Verstand dem Licht hinterher flattert.
Und dieses Licht nimmt mehr und mehr Gestalt an. Die Schritte, männlich, feine Schuhe, Ledersohlen, die achtsam dem Schmutz auf der Straße ausweichen. Der Atem, voll teurem Wein und einem Steak, roh und saftig, mit schwerer, sämiger Sauce. Ein Nachtisch aus süßer Creme. Aber danach etwas anderes, ein Hauch nur. Pommes, kalt und abgestanden. Mentholkaugummi.
Auch in seinen Kleidern, Zweideutigkeit. Edles Parfum, dezent aufgetragen, noch nicht oft gerochen von Hanni, doch unverkennbar, jede Note komplex und lebendig, wie die Pflanzen, aus denen sie gewonnen wurde. Teures Shampoo, parfumfreies Deodorant. Parfumfreies Waschmittel, Trockenreinigung. Und Weichspüler. Lautes Körperspray aus dem Discounter, Raumdeo, Aschenbecher. Und mit jedem Schritt ein neuer Hauch von dort, wo in seiner Unterwäsche Haut an Haut vorbeireibt. Billige Seife, billiges Gleitmittel, ein zweiter Körper wie Hannis eigener, Sperma. Der Gestank seines Geizes, der ihn in diese heruntergekommenen Gassen geführt hat. Der Gestank seiner Übermacht.
Und er strahlt immer heller, je näher sie kommt, durch den dicken, weichen Stoff seines Mantels.
Schon hat sie ihn eingeholt. Ihr Bewusstsein ihrer selbst kehrt mit einem Schlag zurück. Und Hanni weiß, was die nächsten Minuten bringen sollen.
Der Griff ihrer eiskalten Hände an seinem Kragen lässt den Mann erstarren.
„Gib mir deinen Mantel! Her mit dem Mantel! Gib ihn mir!“ Hannis Finger formen sich zu Krallen und verhaken sich unlösbar im Stoff.
„Was fällt Ihnen ein!“ grollt der Mann, während er versucht, sich zu befreien.
Hanni spürt, wie er sich bei diesen Worten erhitzt, sieht, wie die Wärme noch stärker durch seine Kleider sickert.
„Ich will deinen Mantel!“ Eine gewaltige Kraftanstrengung, Knöpfe reißen ab, der Mann grollt empört, und schon hüllt sich Hanni in kostbaren Stoff und noch kostbarere Wärme.
„Das ist ja wohl unerhört!“ schmettert der Mann und packt ihren Arm.
Grinsend hebt Hanni den Kopf, und da schlägt ihr das Gleißen des Mannes so hart ins Gesicht, dass sie es hastig hinter einem Arm verbergen muss. Wie unerträglich schön. Wie lebendig.
„Ich werde die Polizei rufen, Sie Kriminelle! Ich werde Sie anzeigen!“ Damit holt der Mann sein Handy aus seiner Hosentasche, zitternd vor Kälte und Wut, doch er kommt nicht dazu, eine Nummer zu wählen.
Mit einem Satz springt Hanni ihn an. „Du bist so warm.“ knurrt sie in sein Ohr, bevor sie ihre wenigen verbliebenen Zähne in die Kehle des Mannes gräbt, sie aufreißt und in großen, genussvollen Schlucken trinkt.
Schemenhaft beginnt Hanni, das Glühen ihrer eigenen Hände zu sehen, fühlt sich von innen heraus leuchten, während der Mann an Deutlichkeit verliert, bis er unsichtbar geworden ist und vollkommen tot.
Satt und warm lehnt sie kurz darauf wieder an ihrer Wand.
Nein, Graustar-Hanni hat nicht vor, der Welt diesen Winter schon Adieu zu sagen. Und jetzt weiß sie auch, wie sie das anstellen wird.

Diese Geschichte ist Teil des Autoren-Adventskalenders.

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2 Kommentare
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Michael Kothe, Autor
3 Monate zuvor

Hallo, Christine,
eine einfühlsam und packende geschriebene Erzählung über Armut, besser gesagt über Elend und die Fähigkeit, verloren gegangene Sinne zu kompensieren. Dieser Aspekt und Dein Schreibstil begeistern mich. Gut aber, dass Du Deine Geschichte Anfang Dezember erzählst und nicht erst am Ende des Kalenders. Dann hätte es eine stille, unheilige Horror-Nacht gegeben.

Viele Grüße
und eine schöne Voreihnachtszeit
Michael