Unwillkommen

FSK 16 - Triggerwarnung

Selbstm*rd

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— Diese Geschichte war Teil eines Weihnachtscontest; die Aufgabe bestand darin, mindestens drei aus einer vorbereiteten Liste von Filmzitaten in der Geschichte unterzubringen —

Ein sonderbares Rascheln im Salon lässt Erik aus seinem Zimmer trotten. Ursache dieses Geräusches ist sicher nicht die Katze, sondern viel eher…
„Nadir…“ Er unterdrückt seinen Drang, laut zu werden. „Was machen Sie hier? Es ist Montag, nicht Donnerstag!“
„Es ist der vierundzwanzigste Dezember. Die christliche Welt bereitet sich auf die morgige Weihnachtsfeier vor.“
„Und das veranlasst Sie dazu, einen Baum in mein Haus zu schleppen? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“
Nadir stützt sich mit einer Hand an der Wand ab und steigt vorsichtig von der Leiter herunter, um die Standfestigkeit der Tanne durch ein kurzes Rütteln zu prüfen.
„Sie verteilen Nadeln in meinem Salon, Nadir.“
„Nun haben Sie sich nicht so. Ich werde alles wieder saubermachen.“
Erik schließt kurz die Augen. „Nadir, bitte. Ihre Begeisterung für Tradition in allen Ehren, aber ich bin nicht in der Stimmung, Ihre albernen…“
„Würden Sie mir bitte die Kugeln reichen, Erik?“ unterbricht Nadir ihn. „Der grüne Karton dort auf der Chaiselongue.“
„Verlassen Sie mein Haus und nehmen Sie Ihren Baum mit!“
Seufzend lässt Nadir die Hände sinken. „Seit Christine Sie verlassen hat, haben Sie jede Freude am Leben verloren.“
„Gut, dass Sie es erwähnen, es wäre mir nicht aufgefallen.“ schnappt Erik.
„Sie sind mein Freund. Ich möchte Ihnen helfen.“
„Dann lassen Sie mich in Ruhe! Sie wissen sehr gut, dass ich kein religiöser Mensch bin. Dieses Fest bedeutet mir nichts.“
„Sehen Sie es allgemein, wenn Sie möchten. Feiern wir die Sonnenwende. Feiern wir den bevorstehenden Jahreswechsel. Feiern wir, dass Sie heute morgen aufgestanden sind.“ Nadir schüttelt den Kopf. „Sie können nicht in Trauer vor sich hin vegetieren, bis Sie sterben.“
„Wollen Sie es mir verbieten?“
„Ja.“
Erik lacht kalt. „Schön. Verbieten Sie es mir von Ihrer eigenen Wohnung aus. Mit der Tanne als Zeugen. Guten Tag, Nadir.“
„Sie klingen wie ein trotziges Kind. ‚Ich fand Weihnachten schon immer doof.'“ Als Erik nicht auf seinen hilflosen Scherz reagiert, sondern sich auf den Fersen umdreht, um das Zimmer zu verlassen, folgt Nadir ihm. „Ich werde Sie nicht aufgeben, Erik.“
„Ich bin Ihre Mühe nicht wert.“
„Natürlich bist du das!“
Bei dieser nichtautorisierten Anrede fährt Erik herum. „Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge, Monsieur. Wer war es noch gleich, der meinen Lebenswandel als ‚tragische Verschwendung‘ bezeichnete?“
„Ob ich Ihren Lebenswandel missbillige oder Sie Ihrem Schicksal überlasse, sind zwei sehr verschiedene Dinge.“
„Oh gütiger Samariter. Ich will keine Hilfe! Nicht von Ihnen, und auch nicht von irgendwem sonst.“
„Erik, ich verlange nicht von Ihnen, in die Kirche zu gehen, oder dem mythologischen Hintergrund dieses Festes Bedeutung beizumessen. Ich will nur, dass Sie aus Ihrem Loch herauskommen. Christine ist fort, aber das bedeutet nicht, dass Ihr Leben allen Inhalt und Sinn verloren hat.“
Eriks Hand krallt sich in Nadirs Hemdbrust, damit er den nun etwas verschreckt wirkenden Mann zu sich ziehen kann. „Sprich nie wieder mit mir!“ knurrt er. Dann stößt er Nadir von sich und verschwindet in seinem Zimmer.
Mit zusammengebissenen Zähnen lauscht Nadir dem Schlüssel, der sich zweimal im Schloss dreht und schließlich klirrend zu Bodenfällt
Nun, das war deutlich. Aber Erik hat ihn nicht vor die Tür gesetzt, und bis es nicht soweit gekommen ist, wird er seine Bemühungen fortsetzen. Fehlgeleitet oder nicht, kein Mensch hat das Leben verdient, das Erik seit Christines Weggang führt.
Langsam geht Nadir in den Salon zurück, um ein paar Kugeln an den Baum zu drapieren.
Die Stille lastet auf dem Raum. Nicht einmal die Standuhr in der Zimmerecke macht ein Geräusch, denn Erik hat sie angehalten. Es scheint ihm völlig egal geworden zu sein, ob jemand sein Versteck findet. Vielleicht hofft er sogar darauf, damit er nicht selbst den Schritt gehen muss, der seinem Leben ein Ende setzt.
Doch dazu wird Nadir es nicht kommen lassen.
Er hat Erik schon einmal das Leben gerettet. Damit hat er die Verantwortung für ihn übernommen. Und in dem Zustand, in dem sich sein Freund gerade befindet, erstreckt sich diese Verantwortung über seine Rolle als Gewissen hinaus.
Nadir rückt ein paar Kerzen gerade, nimmt seinen Korb auf und marschiert in die Küche, um das Essen zuzubereiten.
Als er den Salon wieder betritt, entdeckt er Erik, der mit vor der Brust gekreuzten Armen mitten im Raum steht. Der Baum ist verschwunden.
Irritiert runzelt Nadir die Stirn. „Erik, was haben Sie mit dem…“
„Der Baum brennt.“
„Aber ich habe die Kerzen…“
„Ich habe ihn draußen angezündet.“
„Sie haben was?“ Nadir reißt die Augen auf.
„Und nun verschwinden Sie aus meinem Haus. Sofort!“ Seine Stimme klingt sonderbar fremd, und schließlich begreift Nadir, dass Erik nur mit Mühe seine Tränen zurückhält.
„Es tut mir so leid, was geschehen ist…“ setzt Nadir beruhigend an, doch Erik packt ihn nur am Kragen und zerrt ihn zur Tür.
„Verschwinden Sie aus meinem Haus!“
Die kalte Luft der Katakomben schlägt Nadir entgegen, dann schließt sich die Tür. Sofort dreht er sich um und betätigt die Klingel. „Erik, öffnen Sie mir! Seien Sie nicht so kindisch. Sie können nicht ewig um Christine trauern!“
Als sich die Tür noch einmal öffnet, will Nadir erleichtert aufatmen, doch Erik bittet ihn nicht herein; stattdessen drückt er ihm die sich heftig wehrende Ayesha in die Hand und verschließt das Haus wieder.
Fauchend springt die Katze von Nadirs plötzlich kraftlos gewordenem Arm, um in einem Seitengang zu verschwinden und sich wahrscheinlich beleidigt zu putzen.
Ein Moment vergeht in völliger Erstarrung, doch schließlich entzündet Nadir die Sturmlaterne aus dem Boot. Nach einem kurzen Blick auf die schwelenden Überreste des Baumes setzt er so schnell es ihm möglich ist, über den See. So Allah will, ist die Folterkammer noch immer abgeschaltet und er kommt nicht zu spät.

Das Haus hinter dem See liegt in völliger Dunkelheit, als Nadir aus der Kammer stolpert.
„Erik?“ Er lauscht aufmerksam, doch keine Antwort ist zu hören. Hastig läuft er zu Eriks Zimmer. An der Tür bleibt er stehen. Sein Freund hat sich in den Sarg gelegt. Daneben liegen eine Injektionsspritze und drei leere Ampullen Morphium.
„Verflucht!“ Die Laterne flackert, als Nadir zum Sarg eilt, um Eriks Puls zu fühlen. Er ist noch da; schwach und quälend langsam, doch das Herz schlägt noch. „Nun zeigen Sie, dass Sie ein verantwortungsvoller Süchtiger sind und haben Sie ein Gegengift im Haus!“ Mit zitternden Händen wühlt sich Nadir durch sämtliche Kommodenschubladen, doch alles, was er schließlich findet, ist eine zerbrochene, ausgelaufene Ampulle am Boden hinter dem Kopfende des Sarges.
Steif lässt sich Nadir auf das Podest sinken und legt noch einmal seine Finger an Eriks Handgelenk, doch er kann kein Lebenszeichen mehr ausmachen.
Nadir seufzt und reibt sich das Gesicht, als ihm seine plötzlich aufsteigenden Tränen über die Wangen laufen.
Schuld ist nicht sein Aufmunterungsversuch, sagt er sich selbst. Vielleicht war er der Anlass, aber der Grund war etwas ganz anderes: Eine Menschheit, die zu selbstherrlich ist, um über die äußerliche Erscheinung hinwegsehen zu wollen, die so dumm ist, zu fürchten und zerstören, was sie nicht versteht.
Müde erhebt sich Nadir nach einer Weile wieder von seinem Platz.
„Schlaf wohl, alter Freund.“ murmelt er leise. Dann verlässt er die gespenstisch stille Dunkelheit von Eriks Behausung, um die Katze zu suchen.
Wenn es Eriks letzter Wille ist, wird er sich zusammenreißen und dem Biest ein neues Zuhause geben.

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