Menschlich korrekt

/ Dezember 23, 2012

(Teil 2)

Wie angekündigt.

Fang ich mal von der aktuellen Seite aus an.

In einem Leserbrief an Scott Lynch sagte sone Type (von mir ins Deutsche übersetzt):

Ihre Charaktere sind unrealistische Stereotype politischer Korrektness. Ist es wirklich notwendig, gerade angesagten Empfindlichkeiten zuliebe in der Fantasy genau das zu zeigen, was wir in der wirklichen Welt sowieso schon sehen? Ich lese Fantasy, um von politisch korrekten Klischees wegzukommen.

Zuallererstensens mal und nur weil es mir so viel Spaß macht, auf solche Sachen zu zeigen und boshaft zu lachen:
Die Type beschwert sich über ‚unrealistische Stereotype‘, die sie ‚in der wirklichen Welt‘ sowieso immer sehen muss. Aber wenn die Stereotype unrealistisch sind, kann sie sie in der wirklichen Welt gar nicht sehen. Weil sie unrealistisch sind. Mal ganz davon abgesehen, dass ‚unrealistische Stereotype‘ eine Tautologie ist. Weil Stereotype notwendigerweise immer unrealistisch sind.
Und dann stellt sich natürlich noch die Frage, in welchem wundervollen Land diese Person lebt, dass ihr die ganze Gleichberechtigung schon wieder auf den Zeiger geht. Weil da würde ich nämlich gerne hin auswandern. Das Wetter ist da bestimmt auch immer so wie vorhergesagt. Und Frischmilch hält drei Wochen.

Das zweite, was mich an diesem kurzen Zitat in Wallung bringt, ist das hier:
Ich mag die Phrase ‚politisch korrekt‘ nicht. Ich meine, politisch ist es korrekt, aber mal ganz unter uns wissen wir ja alle, dass die Kanacken, Schwuchteln und Schlampen alle blahblahblah?
‚Politisch korrekt‘ ist eine Farce.
‚Politisch korrekt‘ ist Code für „Ich sag das jetzt nur weil ich muss.“
Es ist nicht nur politisch korrekt, keine rassistische, homophobe, misogyne Scheiße zu labern; es ist menschlich korrekt. Und es entlarvt einen Menschen als reulos vorurteilsgesteuertes Arschloch, anderen ihre menschliche Korrektness als ‚politische Korrektness‘ vorzuwerfen und damit eben zu unterstellen, dass wir alle in Wirklichkeit genau so denken wie sie, aber als angepasste Duckmäuser so tun, als wären Türken, Schwule und sexuell selbstbestimmte Frauen allen Ernstes echte Menschen mit echten Menschenrechten.

Was bedeutet nun menschliche Korrektness im Zusammenhang mit dem Erzählen?
In Bezug auf ‚Das Kunstwerk‚ stellt sich mir seit diesem Post die Frage, wie ich Frauen, Männer und ihre jeweiligen Beziehungen zueinander darstelle. Ich hatte vorher eine ganze Reihe von Artikeln über offenen, unterschwelligen, codierten und paradoxen Sexismus und über die Risiken und Nebenwirkungen des Patriarchats für Männer gelesen. Danach habe ich mir die gleiche Diät in Sachen Rassismus, Ableismus, Ageismus, Heterosexismus, Cissexismus usw. reingezogen und mich anschließend mit meinem Welt- und Menschenbild mal ein Ründchen zusammengesetzt und gequatscht.

Und was soll ich sagen? Ich bin Jacks vollkommenes Defizit an Überraschung.
-ismen durchziehen die Kultur, in der ich lebe, und ebenso mein Denken; ganz gleich für wie aufgeklärt und tolerant wir uns halten, wir sind niemals frei davon. Dieser Fakt ist deprimierend, aber er ist auch ein Aufruf zum Handeln. Denn dass unsere eigenen Vorurteile uns deprimieren können, zeigt, dass sie uns ankotzen, und gegen Dinge, die einen ankotzen, sollte man was tun.
Immer wieder drüber lesen und drüber nachdenken. Perspektivwechsel üben. Das eigene Denken hinterfragen. Die eigenen Gefühle hinterfragen.

Für Autor_innen ist das besonders wichtig. Zum Einen, weil es notwendigerweise zum Schreiben lebendiger, individueller Charaktere gehört, sich ständig über Menschen, ihr Erleben, ihre Gesellschaften, ihre Kulturen und unsere Vorstellung davon weiterzubilden. Zum Anderen weil wir als Erzähler_innen Kulturschaffende sind. Auch wenn wir nur hier und da mal was auf fanfiction.net, in irgendeinem einem Literaturforum oder auf unserer kaum frequentierten homepage veröffentlichen. Wir bauen mit an diesem hunderttausend Jahre alten Großprojekt namens ‚Menschheit‘ und helfen entweder den -ismen bei der Fortpflanzung, indem wir ihnen in unserer Arbeit einen Platz geben, oder wir setzen uns über eben diese Denkschranken hinweg, um einen relativ -ismen-freien Raum zu schaffen.
Diesen speziellen Kulturschöpferschuh muss sich natürlich niemand anziehen wenn er_sie nicht will. Aber diejenigen von euch, die bis hierher gelesen haben, müssen sich jetzt zumindest mit der Frage auseinandersetzen, ob und wenn nein warum sie das nicht wollen. Haaaaa, errrwischt! :D

Ich persönlich trage den menschlich korrekten Kulturschöpferschuh schon lange, auch wenn ich ihn eigentlich nicht so nenne und noch sehr damit beschäftigt bin, halbwegs reinzuwachsen.
Das bedeutet nicht, dass ich perfekte Utopien schreiben und jedes wie auch immer geartete Klischee aus meinen Geschichten tilgen will. Es bedeutet ’nur‘, dass ich versuche, meine Charaktere und ihr Verhalten zu hinterfragen, damit sie möglichst frei von den Selbstverständlichkeiten meiner Kultur ihr Dasein entfalten können.

Das ’nur‘ steht in Anführungszeichen, weil es erstaunlich knifflig ist, bei dieser Sache auf einen ersten grünen Zweig zu kommen. Denn die Klischees und Rollenvorstellungen werden uns kommentarlos jeden Tag überall präsentiert, weshalb sie uns wie die Schwerkraft vorkommen. Immer da, unausweichlich, völlig normal – selbstverständlich.
Frauen sind so und so. Männer sind so und so. Leute aus Asien kochen in Woks. Leute aus der Türkei essen Döner. Schwule knicken das Händchen ab. Lesben sind bullig und haben nen Bürstenschnitt. Schwarze Frauen machen diesen Nackenschwung und sagen ‚Sprich mit der Hand, Bitch‘.

Aber es gibt einen Trick. Der ist nicht von mir, nur finde ich ums Verrecken den Artikel nicht mehr, aus dem ich ihn abgeguckt habe.
Er geht jedenfalls so:
Ihr habt alle die neue Battlestar Galactica gesehen und ihr kennt und liebt Starbuck. Ihr wisst auch, dass Starbuck in der Originalserie ein Mann ist. Und euch ist klar, dass die Rolle für Katee Sackoff nicht umgeschrieben wurde, dass sie aber gerade deshalb super rüberkam.

Daraus folgt jetzt nicht, dass es eine sonderlich gute Idee ist, eine Geschichte erstmal mit vertauschten Geschlechterrollen zu schreiben und dann einfach die Namen umzudrehen. Aber so wie es beim Zeichnen hilfreich ist, sich seine Arbeit mal im Spiegel anzusehen – das deckt Fehler auf, dass es zum Heulen ist – ist es beim Schreiben hilfreich, sich immer mal wieder hinzusetzen und zu überlegen:

1. Was würde ich an diesem Charakter anders schreiben, wenn er_sie ein anderes Geschlecht, eine andere Hautfarbe, eine andere Sexualität, einen anderen Beruf, eine andere Funktion innerhalb der Geschichte o.ä. hätte?
2. Was bedeuten diese Unterschiede? Welche Klischees und Selbstverständlichkeiten entlarven sie?
3. Wie kann ich die Unterschiede nutzen, um meine Charaktere und ihren Umgang miteinander lebendiger, vielseitiger, realistischer und einzigartiger zu gestalten?

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