Psychologie für Erzähler_innen 02: Entwicklungen und Erkenntnisse

/ Dezember 2, 2012

Christian Bale vor und während The Machinist. Eine Veränderung, die symptomatisch für seine Einstellung zu seinem Beruf, sein Selbstverständnis, den Zustand seiner Willenskraft und noch viele andere Aspekte seiner Persönlichkeit ist.

Endlich komme ich nochmal dazu, im Blog des guten Herrn Waldscheidt herumzustöbern, und da stolpere ich doch glatt über eine Inspiration für den lange angekündigten zweiten Artikel aus der Reihe ‚Psychologie für Erzähler‚.

Und zwar gibt es da zwei Posts, die sich mit dem Buch ‚Der Junge, der Träume schenkte‘ von Luca Di Fulvio beschäftigen (1, 2). Am Beispiel dieses Buches erklärt Herr Waldscheidt ein paar wichtige Punkte in Bezug auf die Darstellung der emotionalen und sozialen Entwicklung eines Charakters.
Hüpft mal rüber und seht sie euch an, ehe ihr hier weiterlest.

Ich fasse kurz zusammen:
Der erste Artikel behandelt den Moment bzw. Zusammenhang, in dem dem Charakter bewusst wird, dass er mit seiner Entwicklung in den vergangenen Jahren und dem aktuellen Zustand seines Lebens nicht zufrieden ist. Im Beispiel von ‚Der Junge, der Träume schenkte‘, nimmt diese Erkenntnis auch Bezug auf frühere Momente der Selbstreflektion, die aber noch nicht zu der umfassenden Erkenntnis geführt haben. Die Erkenntnis tritt ein Handlungsbedürfnis los, zusammen mit einem konkreten Plan, in dem dieses Handlungsbedürfnis ausgelebt werden kann.
Der zweite Artikel befasst sich mit der Darstellung der Veränderung zum ‚Besseren‘ in einer Auswahl von zwei Szenen, die sich einmal mit erneuter Selbstreflektion und einer quasi-rituellen Einleitung der tatsächlichen – und nicht nur geplanten – Veränderung und dann mit der Konfrontation mit Personen aus der ‚alten Welt‘, sowie deren Verlockungen beschäftigen.

So.
An sich find ich das schonmal gar nicht übel, und ich gehe davon aus, dass außerhalb der kurzen Beispiele aus den Artikeln von Herrn Waldscheidt noch genau das passiert, was ich vom nächsten Absatz an besprechen werde.

Und zwar ist es für das Schreiben von Veränderungen im Erleben und Verhalten von Charakteren sehr wichtig, dass man ein Grundverständnis davon hat, wie beides im Zusammenhang mit kognitiven Verzerrungen steht, und dass ‚Das Alte‘ fast schon wie eine eigenständige Entität agiert, die sich hartnäckig gegen ihre Auslöschung wehrt.

Ich strukturier das ganze jetzt mal mit Nümmerchen und so, in der Hoffnung, dass es halbwegs übersichtlich bleibt.

1. Was ganz grundsätzliches zum Anfang: Wenn sich ‚Das Alte‘ so wehrt, wie soll ich den langen Prozess dann erzählen, ohne dass es dem Leser langweilig wird?
Naja… da die Veränderung des Charakters eines der Themen deiner Geschichte ist, wird es doch sicher so sein, dass sowohl ‚Das Alte‘ als auch ‚Das Neue‘ in verschiedensten Situationen und Beziehungen für den Chara eine Rolle spielt. Es ist immerhin seine Persönlichkeit, seine Weltsicht, sein Selbstverständnis, um das es hier geht, die Basis all seines Erlebens, all seines Verhaltens.
Nicht jeder Entwicklungsschritt eines Charas braucht eine eigene Szene, die sich nur damit beschäftigt und dem Leser vorkaut, was gerade passiert. Symptome der Veränderung fließen in alle anderen Themen der Geschichte ein und äußern sich in allem, was der Charakter tut und denkt.
Die Psyche eines Charakters ist eine verwobene Angelegenheit. Nichts findet in einem Vakuum statt. Alles hängt mit allem zusammen und wirkt sich auf alles aus.

2. Systeme

    2.1. Das innere System
    Die Psyche eines Menschen ist also ein Großes Ganzes. Jedes Verhalten entspringt aus der komplexen Interaktion von Erinnerungen, Meinungen, akuten Gefühlszuständen, Hoffnungen, Ängsten, Wünschen, erlernten Glaubenssätzen, dem Selbstbild, dem Menschenbild, der Beziehung zu der Sache oder Person, mit der interagiert wird.
    Wenn z.B. jemand aggressiv die Grenzen eines anderen überschreitet und sich in dessen Leben einmischt, dann ist das keine Sache, die nur in dieser Beziehung stattfindet. Denn dieses Verhalten erwächst aus Überzeugungen und Ängsten, aus dem, was der Charakter über das Zeigen von Gefühlen, seine Rolle in der Welt und deren allgemeines Funktionieren gelernt hat.
    Ein Verhalten ist immer ein Symptom des Ganzen, genau so wie ein Erleben immer ein Symptom des Ganzen ist.

    2.2. Das äußere System
    Auch das soziale, politische und ökonomische Umfeld eines Charakters ist ein Großes Ganzes, das mit dem inneren System interagiert.
    Kleinkriminelle stammen zum Beispiel eher selten aus behüteten, wohlhabenden Verhältnissen mit guten Zukunftsaussichten, hohem Bildungsniveau und einer philanthropisch-humanistischen Ideologie der Gewaltlosigkeit und Toleranz. Und wenn dieser Kleinkriminelle nicht den Schritt macht, sein soziales Umfeld und seine ökonomischen Abhängigkeiten zu verändern, sieht es auch für seine persönliche Entwicklung nicht so großartig aus – es sei denn natürlich, wir wollen ihn zum Gangsterboss entwickeln.

Sowohl die Genese des Status quo zu Beginn einer Geschichte, als auch dessen Veränderungen im weiteren Verlauf finden im Rahmen dieser beiden Systeme statt und wirken sich auf beide Systeme aus. Natürlich nicht in dem Sinne, dass durch die Veränderung des Charakters auf einmal aus der Diktatur eine Demokratie wird (es sei denn, der Charakter ist der Diktator), sondern dass er beginnt, Menschen anders wahrzunehmen und zu behandeln, sich mit anderen Menschen zu umgeben, die besser zu seiner neuen Persönlichkeit passen, und die Leute zu meiden, die als Verstärker, Anstifter oder Enabler von dysfunktionalen Verhaltensweisen gewirkt haben.
Falls es Berührungspunkte mit dem politischen System gibt, verhält sich der Charakter auch dort mit und mit anders, überdenkt Ansichten neu, wird vielleicht aktiv oder lässt Aktivitäten einschlafen usw.

Ein Charakter ist kein Mosaik, in dem Steinchen – Eigenschaften – nebeneinanderliegen, und bei dem man mal eben ein oder zwei austauschen kann, ohne dass sich sonst etwas tut.
Er ist mehr wie ein Teich, in den man Mosaiksteinchen hineinwirft. Vom Epizentrum der Veränderung breiten sich Wellen aus, weil der erzeugte Druck das Wasser bewegt, Moleküle stoßen gegeneinander, geben den Impuls weiter.

3. Der Jojo-Effekt ausgetretener Pfade
Man kennt das. Da hat man eine Angewohnheit, die einen nervt, und man würde sie gerne abstellen. Man fasst den Entschluss, es läuft ein paar Tage lang ganz gut, aber dann fällt man wieder in die alte Gewohnheit zurück, und das frustriert einen dann auch noch auf Dauer, was alles nur noch schlimmer macht.

Wie oben erwähnt, sind Erleben und Verhalten Symptome des Großen Ganzen. Wenn wir z.B. chronische Raucher sind*, dann nicht nur, weil Rauch schmeckt und entspannt.
Vielleicht hat es vor Jahren einmal so angefangen, aber es ist nicht dabei geblieben. Das Rauchen hat nach und nach einen festen Platz in unserem Leben eingenommen. Wir rauchen z.B. immer beim Frühstück über einer Tasse Kaffe und der Zeitung, und das ist unser Start in den Tag. Wenn wir nervös sind oder unsicher oder gelangweilt, benutzen wir das Rauchen, um besser mit dem unangenehmen Gefühlszustand zurechtzukommen oder ihn zu verändern. Wir definieren uns ein ganzes Stück weit über das Rauchen, weil uns der im Gesetz festgeschriebene Nichtraucherschutz dazu zwingt, eine Position einzunehmen, weil uns der Fakt, dass Rauchen Krebs verursachen kann, zwingt, eine Position einzunehmen, weil uns die Sorge unserer nicht-rauchenden Freunde und Verwandten zwingt, eine Position einzunehmen.
Wir rauchen nicht einfach nur, wie *sind Raucher*. Mit dem Ausdrücken des letzten Glimmstengels fallen also nicht nur fünf Minuten Inhalation alle zwei Stunden weg, sondern auch ein Copingmechanismus, eine Gewohnheit, die unseren Tag strukturiert hat, die uns notwendige Ansichten haben ließ, die wir vor anderen rechtfertigen mussten.
Um überhaupt den Punkt zu erreichen, mit dem Rauchen aufhören zu wollen, müssen wir Letztere überwinden. Wir müssen begreifen und uns eingestehen, dass unsere Gründe lahme Rechtfertigungen mit Selbstzweck waren, dass wir uns selbst belogen haben, dass wir leichtsinnig, egoistisch, ignorant o.ä. gehandelt und uns dabei in gerechtem Zorn über militante Nichtraucher aufgeregt haben.
Haben wir den Punkt schließlich erreicht, gibt es jeden Tag wieder und wieder Situationen, in denen wir eigentlich geraucht haben, aber jetzt nicht mehr rauchen wollen. Plötzlich ist da eine Leere. Eine offene Frage: „Was tue ich stattdessen?“ Jemand bietet mir eine Kippe an, was sage ich? Ich bin nervös, was tue ich? Mir ist langweilig, womit beschäftige ich jetzt meine Hände?
Oft sind die militantesten Nicht-Raucher Ex-Raucher, weil der innere Konflikt dadurch gelöst wird, dass die neue Einstellung überbetont wird. So als würde für vergangene Irrtümer gebüßt, indem man sich selbst geißelt und es alle Welt wissen lässt, dass man dazugelernt hat. (Ich sage nicht, dass das auf alle Veränderungen bei allen Menschen zutrifft. Manche Veränderungen werden aus Scham verschwiegen; aber vieles macht sich dennoch subtil bemerkbar, vor allem wenn ein Zustand, der Frustration, Unwohlsein, Ärger etc. ausgelöst hat, auf einmal durch Verhaltensänderungen aufgebrochen wird; die Laune wird besser, Aggression geht zurück, man hat mehr Zeit für schöne Dinge, mehr Interesse, mehr Energie, fühlt sich befreit usw.)

Es fällt also nicht nur ein einzelnes Mosaiksteinchen am Boden weg, sondern die Hälfte einer tragenden Wand, so dass die Decke anfängt, durchzuhängen. Und wenn wir keine Möglichkeit finden, die Decke mit etwas anderem abzustützen, werden wir irgendwann notgedrungen die alte Wand wieder aufbauen, weil sonst alles über uns zusammenbricht.
Und das ist der Jojo-Effekt.
Wenn man nicht weiß, welche Funktionen eine Angewohnheit, Meinung, Beziehung etc. im eigenen Leben hatte, kann man nicht wissen, wie man sie durch etwas funktionaleres, gesünderes, erfüllenderes ersetzt. Und wenn man sie nicht ersetzt, fällt man immer wieder in das alte Muster zurück, sobald eine Situation eintritt, in der man es ‚braucht‘.

4. Gründe, Rationalisierungen, kognitive Verzerrungen
Verhalten hat also immer gute Gründe; es erfüllt eine Funktion, auch wenn es negative Nebenwirkungen hat. Verhalten spricht von etwas tieferliegendem, von Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten, Ansichten. Es steht auf einem breiten Fundament.
Vor allem erscheint es uns angebracht. Egal wie daneben und zerstörerisch ein Verhalten ist, wir handeln immer in dem Glauben, dass es richtig, angemessen, notwendig oder unsere einzige Option ist. Damit zerstörerisches Verhalten als eine gute Idee erscheint, braucht es kognitive Verzerrungen, die verhindern, dass z.B. die Perspektive des Geschädigten adäquat übernommen werden kann.
Wir halten Kriminalität z.B. für unsere einzige Möglichkeit, uns selbst und unsere Familie zu ernähren, die einzige Möglichkeit, Karriere zu machen, und den einzigen Weg, in dieser beschissenen Gesellschaft zu leben, ohne uns irgendwelchen Bürofuzzis zu unterwerfen und die Gesetze der schwachen und feigen Normalverbraucher zu befolgen.

Die Gründe sind: Überleben, gut leben, authentisch leben. Die Rationalisierung ist: Es gibt keinen anderen Weg. Und kognitive Verzerrungen machen die Rationalisierung erst möglich.

Diese Verzerrungen hören aber nicht in dem Moment auf, in dem der Kleinkriminelle realisiert „Holy shit, ich könnte auch zur Abendschule gehen, das Fachabi nachholen, eine Ausbildung machen und dann versuchen, selbständig zu werden und mein eigener Bürofuzzi zu sein!“
Er sieht vielleicht jetzt eine andere Möglichkeit neben der Kriminalität, sein Leben mit einem Gefühl von Stolz und Integrität zu bestreiten, aber die Gesellschaft ist seiner Ansicht nach immer noch beschissen, und die Normalbürger sind schwach und feige. Solange sich diese Ansicht nicht ändert, wird der Charakter immer wieder entsprechend handeln, sich über Regeln hinwegsetzen, die er nicht akzeptiert, Prioritäten haben, die mit seiner Absicht, eine Ausbildung zu machen und selbständig zu werden, nicht vereinbar sind, er wird bekannte Lösungen für bekannte Probleme verwenden, mit den bekannten Resultaten, die ihn überhaupt erst in die Kriminalität gebracht haben.

5. Vergessene Erweckungserlebnisse
Di Fulvio arbeitet ein Stück weit damit. Sein Charakter bemerkt schon vor dem Ereignis, das schließlich die Erkenntnis bringt, dass er sich nicht unbedingt in bester Gesellschaft und auf dem besten Weg befindet. Aber wirklich ‚klick‘ macht es erst, als er sich in einer extremen Situation in einer Weise verhält, die er als inakzeptabel erlebt.
Von diesem Moment an geht es aufwärts mit ihm, aber meiner Ansicht nach darf eine Veränderung kein stetiger Aufwärtstrend sein, wenn sie realistisch sein soll. Denn Veränderung kann niemals nur in einem einzigen Aspekt des Lebens eines Menschen stattfinden. Alles hängt mit allem zusammen, und ich kann noch so deutlich erkennen, dass das Rauchen meiner Gesundheit schadet; wenn ich keine Möglichkeit finde, mich z.B. trotz des erkannten Irrtums (ich hielt mich für unverwundbar, Krebs kriegen nur die anderen) für eine annehmbar intelligente, erkenntnisfähige Person zu halten, wird dieses Bedürfnis dafür sorgen, dass ich die Erkenntnis wieder wegrationalisiere.
Das Rauchen mag meiner Gesundheit schaden, aber an irgendwas stirbt jeder und die Luft ist sowieso verschmutzt und es kriegen auch Nicht-Raucher Lungenkrebs und Sport hab ich schon immer gehasst, der Nutzen des Rauchens überwiegt einfach die Kosten.
Der Erkenntnismoment verpufft einfach, weil er nicht den nötigen Schwung hat, die Massenträgheit seines psychologischen Kontextes zu überwinden.

Es ist so ein bisschen ein Tabu beim Schreiben – glaube ich – Erkenntnisse einfach verpuffen zu lassen. Vielleicht damit es nicht so repetitiv wird wie dieser Artikel hier.
Aber die Sache ist, keine zwei Erkenntnisse sind genau die gleichen. Die verpuffte Erkenntnis, dass ich wegen meiner Kettenraucherei schon nach zehn Treppenstufen anfange zu keuchen, war eine andere als die Erkenntnis, dass Sucht sich selbständig macht und ich meinen Irrtum auf die Sucht schieben kann, was nicht nur mein positives Selbstbild intakt lässt, sondern mir auch die Gelegenheit gibt, ein bisschen Drama in meinem Leben zu sehen und einen Befreiungskrieg um meine Gesundheit zu beginnen.

Erkenntnis muss auf einem tiefliegenden Level ansetzen, damit sie Veränderung anstoßen kann. Und solche tiefgehenden Erkenntnisse kommen selten aus heiterem Himmel. Sie bahnen sich an, über Versuch und Irrtum, über neue Erfahrungen, in Babyschrittchen. Zwei vor, eins zurück, bis das Neue so gut geübt und eingeschliffen ist, dass es selbstverständlich wird und keinen geistigen oder emotionalen Aufwand mehr verlangt.

Auf der Suche nach einem passenden Bildchen für diesen Artikel, hab ich folgenden Post entdeckt: Die Gefühlskurve in Change-Projekten von Monika Setzwein. Hat zwar mit Literatur nichts zu tun und bezieht sich auf den Business-Kontext, aber das Prinzip des Umgangs mit unerwarteten, unerwünschten und übergreifenden Veränderungen ist in allen Lebensbereichen in etwa gleich.

Ich will damit nicht sagen, dass Veränderungen immer nach diesem Muster ablaufen – das musste nach dem Hype um Kübler-Ross erst schmerzlich erkannt werden – aber die darin aufgeführten Schritte und Emotionen im Zusammenhang mit Veränderung sind informativ und geben wertvolle Denkanstöße.

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* Ich habe noch nie geraucht, aber ich kenne die Raucherargumente.

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