Review: Das Phantom der Oper (Leroux)

/ Dezember 27, 2015


Eine Review, die im Grunde genommen ein langes Loblied auf Christine Daaé und ihre stahlharte Toughness ist.

Wie schon vor einer ganzen Weile angekündigt, habe ich ‚Das Phantom der Oper‚ von Gaston Leroux noch einmal gelesen und mir viele viele Notizen gemacht. Der Vergleich mit Nicholas Meyers ‚Sherlock Holmes und das Phantom der Oper‚ steht ganz unten unterm Fazit.
Und was soll ich sagen, es war ein wilder Ritt.
Es ist nicht so, dass mir das Buch bei diesem zweiten Lesen unbedingt besser gefallen hätte als beim ersten, aber ich denke, ich kann es jetzt besser einordnen, und habe meine Meinung nicht aufgrund von enttäuschten Phan-Erwartungen, sondern aufgrund von enttäuschten Erwartungen im allgemeinen.

Aber fangen wir mit etwas an, das mir gefallen hat…

Christine Daaé ist eine gottverdammte Heldin!

Leroux!Christine wird gern gebasht, sie wäre so hysterisch, so leichtgläubig, so unfähig, so eine Zicke, die Raoul meisterhaft am Bändel führt, und ich muss sagen: Nichts könnte die arme Frau weniger zutreffend beschreiben und ich bin ganz ehrlich ratlos, was – abgesehen von rasender Misogynie – zu einer derart boshaft verzerrten Wahrnehmung von ihr führen konnte.

Christine Daaé ist eine ausgewachsene Heldin, die am Ende hunderten von Menschen das Leben rettet, namentlich drei Männern, von denen zwei ausgezogen waren, eigentlich sie zu retten, und der dritte der mit der Bombe ist.
Christine Daaé rettet den Tag, und zwar ganz allein durch ihre Geistesgegenwart, ihre Cleverness, ihr Einfühlungsvermögen, den Fakt dass sie gottverdammt nahezu unzerstörbar ist, und – zugegeben – eine ordentliche Portion Glück (dazu später mehr).

Sehen wir uns die Story aus ihrer Perspektive an:
Christine hat faktisch zwei Stalker am Hals. Zwei. 2. Deux. Two. Den meisten Menschen reicht schon einer, um ihnen das Leben so richtig zu versauen, und die können oft wenigstens mit der Polizei reden und sich Hilfe holen – im Gegensatz zu Christine.
Stalker Nummer 1 ist Raoul. Hübsch und unbedarft geht er ’nur‘ so weit, Christine eine ‚pflichtvergessene Hure‘ zu schimpfen, als sie es beim ersten mal offensichtlich meint, als sie sagt ‚Bitte lassen Sie mich in Ruhe, auch Ihrer eigenen Sicherheit zuliebe.‘ Er läuft ihr an der Oper ständig nach, obwohl sie ihn demonstrativ ignoriert, folgt ihr zu ihrer Garderobe, belauscht ihre Gespräche durch die Tür, treibt sich drinnen herum, wenn Christine nicht da ist, (auch wenn er – explizit – den Anstand hat, ihr nichts zu klauen, an dem er nachher schnüffeln könnte… was ein Ehrenmann ô.o), versteckt sich in der Garderobe und beobachtet Christine, in der Hoffnung, rauszufinden, mit wem sie liiert ist, und dann taucht er auch noch uneingeladen in Ihrer Wohnung auf!
Im Grunde unterscheiden ihn nur zwei Dinge von Erik:
1. Er geht nicht so weit, Christine körperliche Gewalt anzutun und
2. Christine erwiedert seine Gefühle, weshalb seine Stalkerei sie vor allem dahingehend belastet, als dass sie um sein und ihr eigenes Leben fürchten muss, aber Stalking bleibt Stalking.
Der andere Stalker ist Erik. Ein Mörder und Folterer, der sie entführt, sie und Raoul bedroht und letztendlich einen Selbstmordanschlag auf die gut besetzte Pariser Oper bis fast zur Durchführung bringt. Er foltert Raoul und den Perser, die gekommen sind, um Christine zu retten, und er hat kein Problem damit, Christine k.o. zu schlagen und durch die Gegend zu zerren.

Dieser doppelt schlimmen Situation steht Christine praktisch völlig allein gegenüber. Ihr einziger halbwegs Verbündeter ist Raoul, der sich ständig bemitleidet und Christine Vorwürfe macht, weil sie es wagt, einen Freund zu haben, der nicht Raoul ist. Er ist ein selbstfixierter kleiner Drecksack, aber auch der einzige, dem sie sich anvertrauen kann, der einzige, bei dem sie darauf hoffen kann, dass er ihr glaubt, aber auch der eine Mensch, den sie auf keinen Fall in Gefahr bringen will.
Sie steckt in einer unmöglichen Zwickmühle, die ihr gern so ausgelegt wird, dass sie versucht, sich Raoul warmzuhalten, während sie hofft, das mit Erik schon irgendwie zu regeln.
Aber mal ganz im Ernst, sie hat einen psychisch labilen Mörder am Hals, der auch noch völlig in sie verschossen ist (dazu später noch was) und dessen Existenz sie vor einem Fremden nicht behaupten kann, ohne als bekloppt angesehen zu werden. So geht es ja auch Raoul, einem adeligen Mann; niemand glaubt ihm, dass Erik existiert. Niemand. Einer bürgerlichen Sängerin, einer Frau, würde erst recht nicht geglaubt!
Sie hat sonst niemanden, und sie muss nicht nur Raouls Sicherheits-Status, sondern auch seine Gefühle für sie, die er immer wieder genau so charmant (lies rücksichtslos) raushängen lässt wie Erik. Sicher, als er dann endlich die ganze Geschichte kennt, ist er bereit, für Christine in die Bresche zu springen (natürlich nicht, ohne gleichzeitig Christines Gefühle in Frage zu stellen, als wäre das der passende Zeitpunkt für so eine emotional manipulative Scheiße, weil „Ach du magst mich ja nur weil ich hübscher bin als Erik“ ist so eine wichtige Feststellung; was, hilft er ihr nur, wenn sie ihn danach auch heiratet? Und in wie fern ist das besser als ihr direkt eine Bombe unter den Hintern zu legen und zu sagen: ‚Heirate mich, oder ich zünd sie an‘?)

Am Ende der Geschichte, als alle völlig mit den Nerven fertig und Raoul und der Perser so gut wie tot sind, ist es Christines Fähigkeit, trotz all der Scheiße, die um sie her passiert, zu realisieren, worum es Erik in all dem wirklich gehen könnte, und ihm das glaubhaft zu versprechen, die den beiden das Leben rettet. Und es ist ihre Fähigkeit, Mitgefühl für Erik zumindest glaubhaft genug vorzutäuschen, um ihre eigene Freiheit auch noch zu erlangen.

Hier kommt das Glück ins Spiel. Denn so wie ich daran zweifle, dass Christine nach all den Anschlägen auf sie und andere, die Erik verübt hat, noch in der Lage, geschweige denn bereit dazu ist, die arme, gequälte Kreatur in ihm zu sehen, zweifle ich daran, dass Erik am Ende doch noch begriffen hat, was es bedeutet, jemanden zu lieben.
Die gesamte Geschichte über hat er Besitzansprüche und egozentrische Zukunftsphantasien mit Liebe verwechselt. Er hat die Frau, die er zu lieben behauptet, in Angst und Schrecken versetzt, hat sie belogen, entführt, bedroht, gemaßregelt, sie dann betäubt, verspottet, ihren Geliebten vor ihren Augen gefoltert, versucht, ihn zu töten, hat Christine schließlich sogar geschlagen… Niemand, der nicht schwer gestört ist, tut so etwas auch nur einem Fremden auf der Straße an!
Nein, Erik liebt Christine nicht, aber er will, dass sie ihn liebt (und er behauptet vor dem Perser, Christine würde ihn ‚um seiner selbst willen‘ lieben). Und weil er Liebe nicht wirklich versteht, verhält er sich in keiner Weise liebenswert Christine gegenüber. Er bemerkt, dass das nicht funktioniert, und er gibt sich selbst die Schuld, weil er sich selbst hasst, aber er ändert sein Verhalten nicht. Er tut nicht, was er tun müsste. Er hört nicht auf, zu drohen, er hört nicht auf, Christine zu verängstigen, er hört. nicht. auf.
Dabei hat sie ihn geliebt, solange er sich einfach nur verdammtnochmal anständig, freundlich und gewaltfrei ihr gegenüber verhalten hat, und er hat es mit seiner Gewalt ruiniert!!! Nicht Raoul. Nicht die Konkurrenz hat es versaut. Auch nicht die Demaskierung. Sondern ganz allein Erik.
Und ja, sicher, er ist laut eigener Aussage ganz am Anfang, vor der Demaskierung, bereit, Christine nach ihrer Entführung wieder gehen zu lassen, aber dann fällt ihm doch eine Ausrede ein, um sie länger dazubehalten. Ich bin sicher, letztendlich hat die Demaskierung nur dazu geführt, dass er seine wahre Absicht – Christine unter allen Umständen in seiner Gewalt zu behalten – ein paar Tage früher offenbart.
Dass Christines Tränen ihn rühren, ich denke, das ist echt. Er fühlt etwas in diesem Moment, es beeindruckt ihn, dass Christine Sympathie für ihn zu haben scheint, und er möchte großherzig darauf reagieren, aber das ist kein Akt der praktizierten Liebe zu Christine. Man tut jemandem, den man liebt, nicht an, was er ihr angetan hat, und man bemerkt nicht plötzlich, dass man jemanden, dem man so etwas angetan hat, doch irgendwie liebt. So etwas geht nicht.
Sein ‚Opfer‘ ist nur ein weiterer Akt des allgemeinen Dramas, das ihm durch die Geschichte folgt. Er hätte Christines Tränen und ihre Bereitschaft, seine Braut zu spielen, auch ganz anders interpretieren können, wenn seine Laune gerade zufällig in einem etwas anderen Winkel gelegen hätte.

Was Raoul noch an Scheiße auf dem Stapel hat, werden wir leider nie erfahren, da von Christines und Raouls Ehe nichts berichtet wird. Vielleicht gibt es keine Gelegenheit mehr, zu der er seine Stalker-Seite auspackt oder Christine als ‚Hure‘ beschimpft, dann werden beide vielleicht glücklich miteinander. Wer weiß…

Mir ist außerdem aufgefallen, dass die Geschichte vor allem am Anfang ziemlich Pulp-Fiction-mäßig aufgebaut ist, dahingehend, dass sehr viel entgegen der tatsächlichen zeitlichen Reihenfolge erzählt wird. Das passiert aber nicht willkürlich, sondern scheint mir sehr gezielt so strukturiert, dass man die eigentliche Geschichte um Christine erst einmal von außen und ohne Erklärungen betrachtet, ehe man langsam tiefer in die Geschichte hineingeführt wird, wie – oho – Christine, die auf Cäsars Rücken in den Eingeweiden der Oper verschwindet. Leroux legt Layer an Ereignissen und Zusammenhängen an, die er dann einen nach dem anderen aufdeckt, um uns ein immer vollständigeres, umfassenderes Bild zu präsentieren.
Das wirklich schöne daran ist, dass es praktisch keine Plot-Twists gibt (abgesehen vielleicht von der Aufklärung des Rätsels, wie das Phantom tatsächlich an ’sein‘ Geld kommt). Es gibt ‚Aha!‘-Momente (für die man auch mal mitdenken muss), aber keine gottverdammten, beschissenen, abgedroschenen Plot-Twists. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Neben meinem expliziten Lob für den cleveren Aufbau der Geschichte, nehme ich auch die Aussage zurück, der Text wäre schlecht geschrieben.
Sicher, neben dem Drama um Christine und ihre Stalker gibt es noch einen ganzen Haufen Text, in dem vor allem Slapstick stattfindet, und es gibt einige Stellen in der wörtlichen Rede, wo sich Leroux eine unrealistisch lange und bildhafte Beschreibung nicht verkneifen konnte. Alles in allem liest sich das Ganze aber flüssig. Die Nebencharaktere sind – bis auf den Perser – leider Witzfiguren.
Ich frage mich, warum Leroux das mit dem Slapstick getan hat. Ist das ein Genre? Liegt es daran, dass PotO ursprünglich Kapitelweise in der Zeitung veröffentlicht wurde und er an eine bestimmte Zielgruppe gebunden war? Fand er das clever? Wir werden es wahrscheinlich nie wissen. Leider. Hätte mich echt interessiert. Vielleicht sollte ich das mal recherchieren?

Fazit
Leroux ist die älteste Version des Phantom-Kanon (Leroux, Webber, Kay), und daher sollte man sie mal gelesen haben, sofern man die Art Phan ist, die gern tiefer in die Materie hineinwühlt und die Sache zum vollwertigen Hobby ausbauen will.
Christine als Charakter ist großartig. Ich wünschte nur, die arme Frau hätte es nicht gleich mit zwei Arschlöchern zu tun. Die Romanze zwischen Christine und Erik, die viele Phans suchen, finden sie bei Leroux jedenfalls nicht, und auch Christine/Raoul-shipper werden nicht wirklich auf ihre Kosten kommen.

Jetzt hab ich den Kopf voller Ideen für ‚Bitter‚, kann aber nur Notizen schreiben, weil ich mich zum Arbeiten an ‚Bitter‘ erstmal wieder komplett einlesen müsste, und das würde mindestens einen Tag dauern, als Investition dafür, vielleicht ein paar Stellen zu überarbeiten. Weil mit dem Plot bin ich noch nicht weiter gekommen. Hab mich auf PdS konzentriert.

Der Vergleich mit Nicholas Meyers ‚Sherlock Holmes und das Phantom der Oper‘

Im Grunde genommen sind sich die beiden Stories weitgehend ähnlich. Also, was den Slapstick und die Nicht-Romanzen angeht, Raouls Versagen, Eriks Versagen… Nur Christine… Wow. Noch ganz unter dem Eindruck von Leroux!Christine stehend kann ich nur sagen:
Ich weiß ja, wie gesagt, dass sie einen unerklärlich schlechten Ruf hat, aber Was zur Hölle hat Meyer im Speziellen gegen die Frau? Leroux!Christine ist stellenweise mit den Nerven fertig und ratlos, wie sie mit dem gerade rasenden Erik umgehen soll, aber sie steht den anderen Charakteren in ihrer intellektuellen Handlungsfähig in nichts nach, und sie ist auch emotional unglaublich stark, schwingungsfähig, hat spannweite, kann ihre Gefühle ausdrücken und regulieren… Meyer!Christine hingegen ist kaum in der Lage, irgend etwas zu tun, sowohl intellektuell als auch emotional. Sie ist ein hilfloser, unselbstdändiger Schluck Wasser in der Kurve.
Damit Holmes sie besser retten kann?
Ich verstehs einfach nicht. Irene Adler kann er doch auch als stark und fähig darstellen, als Holmes ebenbürtig, wie es Kanon ist. Warum kann er keine Kanon!Christine schreiben? Warum kann Holmes nicht der Verbündete sein, der Christine in Leroux‘ Version fehlt? Das wäre mal geil gewesen! Aber nein. *sfz*

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