Lisette

FSK 18 - Triggerwarnung

Depression, Selbstm*rdgedanken, Beihilfe zum Selbstm*rd

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Drei Tage. Drei verdammte Tage! Vielleicht sind es auch vier. Sie hat keine Ahnung. Ihr Zeitgefühl hat sie in der ewig gleichen künstlichen Beleuchtung längst verloren; und selbst wenn es in diesem Zimmer eine Uhr gäbe, Lisette wüsste nicht, wie man sie liest.
Angst und Wut wechseln sich in ihr ab, während sie zwischen Toilettentisch und Kleiderschrank hin und her läuft. Sie hat beschlossen, diese Gefühle als Verbesserung anzusehen, denn an den Tagen zuvor hatte sie nur Angst. Schreckliche Angst.
Und das aus gutem Grund: Sie schritt wie immer ihre drei Perche* auf der Rue des Martyrs ab, als plötzlich ein sehr dürrer maskierter Mann direkt vor ihr aus einer der dunklen Parallelgassen zur Rue Victor Massé huschte; an mehr kann sie sich nicht erinnern. Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich in dem fensterlosen Raum, in dem sie nun auf und ab läuft, auf und ab, weil sie nicht wagt, noch einmal auf den Flur zu gehen.
Er kam er ihr dort draußen entgegen, sein nacktes, entstelltes Gesicht unter dem ergrauten Schopf wie einen Schild vor sich her tragend. Offensichtlich weiß er nichts von dem Messer in ihrem Stiefel. Doch selbst bewaffnet würde sie es kaum wagen, ihn anzugreifen. Seine Reichweite ist zu groß und sie ist sich zu sicher, dass er sehr genau weiß, wie man tötet.
Lisette seufzt. Wenn er ihr wenigstens erklären würde, warum er sie entführt hat. Doch er schweigt so beharrlich als wäre er stumm oder ein Idiot. Verwirrender wird all das noch durch die Tatsache, dass er sie in keiner Weise berührt hat, seit sie hier ist; nicht einmal, um mit ihr zu tun, was man mit Huren eben tut. Sie wüsste es, wenn es anders wäre. Sie weiß immer, wenn jemand in ihr war, selbst wenn es im Vollrausch geschehen ist und er nichts zwischen ihren Beinen zurückgelassen hat.
Mit vor Hunger zitternden Händen fährt sie durch ihr aschblondes Haar, als sie vor dem Spiegel über dem Toilettentisch stehen bleibt und sich selbst anstarrt. Öde graue Augen, ein schmaler Mund, eine viel zu spitze Nase unter einer flachen Stirn, Sorgenfalten — So ganz ohne Lidstrich und Rot auf Lippen und Wangen sieht ihr Gesicht bedrückend fremd aus, alt, trotz ihrer sechsundzwanzig Jahre. Sofern sie lebend aus diesem Haus kommt, wird sie bald auch herausgeputzt eine derart trostlose Erscheinung abgeben, dass sie kaum noch Geld verdienen kann.
Und nun hat sie trotz guten Zustands seit ganzen vier Tagen nichts eingenommen, nur wegen diesem Irren! Das halbwegs saubere Zimmer, das sie gerade so für eine Woche im Voraus bezahlen konnte, ist sicher auch längst an eine andere vermietet, weil ihre Hauswirtin sie für tot hält, oder genau so eine gierige Schlampe ist, wie alle Weiber ihrer Zunft.
Lisette wendet sich ab und streift mit dem Blick das Frühstück, das ihr der Maskierte – denn diesmal trug er seinen schwarzen Fetzen – vor einer Weile gebracht hat. Sie hat ihm dabei zum wiederholten Male erklärt, dass sie nichts essen wird, bis er ihr Antworten gibt; doch er ging in keiner Weise darauf ein, und langsam beschleicht Lisette das Gefühl, dass ihm das Ritual mit dem Tablett nur als Vorwand dient, um an diesem Zimmer zu klopfen und angeschrien zu werden.
Was für ein bizarres Verhalten! Lisette schüttelt den Kopf. Er stiehlt sie von der Straße weg, um dann nichts weiter zu tun, als ihr in unregelmäßigen Abständen Nahrung zu bringen. Warum, warum, warum vergewaltigt er sie nicht einfach und bringt sie zurück? Oder tötet sie? Ermordet zu werden, erscheint ihr in diesem Moment als eine sehr annehmbare Alternative zu dem zermürbend ziellosen Warten in dieser widersinnigen, fensterlosen Welt.
Zornig genug, um auf ihre Angst zu pfeifen, verlässt sie schließlich ‚ihr‘ Zimmer und stampft über den Flur in die Richtung, aus der ihr Entführer bei ihrer beunruhigenden Begegnung kam. Die erste Tür, auf die sie trifft, führt in einen Raum, der mit Bücherregalen und Musikinstrumenten vollgestellt ist; dort sitzt er – wiederum maskiert – und liest im Schein eines Kaminfeuers.
„Sag mir endlich, was du von mir willst!“ verlangt sie lautstark, als er es nicht für nötig hält, auf ihr Näherkommen zu reagieren. „Warum bin ich hier? Was soll das Theater?“
Nun hebt er doch den Kopf und mustert sie schweigend mit seinen unheimlichen gelben Augen.
„Warum sperrst du mich hier ein?“
Er lacht leise, was Lisette einen Schauer über den Rücken jagt und sie instinktiv einen Schritt nach hinten stolpern lässt, den sie jedoch ebenso instinktiv wieder zurücknimmt, als der Maskierte zu sprechen beginnt.
„Aus welchem Grund interessiert Sie das?“
Sie braucht einen Moment, um die Fratze, die sich hinter seiner Maske verbirgt, mit dieser außergewöhnlich weichen Stimme in Einklang zu bringen; doch kaum ist es ihr gelungen, geht sie ohne weiteres Nachdenken auf ihn los: „Warum mich das interessiert? Warum mich das interessiert? Das is mein Leben, du Bastard!“
„Es würde nichts an Ihrer Situation ändern, wenn Sie es wüssten.“
„Oh doch, das würde es! Und jetz red endlich!“ Lisette krallt ihre Finger in den Rock ihres zerschlissenen Kleides, während der Maskierte sie aufmerksam mustert. „Willst du mich quälen? Willst du mich dazu bringen, dass ich mich vor dir auf den Boden schmeiß und heul?“
„Sie haben eine merkwürdige Phantasie, Mademoiselle.“
„Ach ja?“ Mit einem Schnauben legt sie die Hände auf ihren knurrenden Magen.
„Essen Sie lieber, anstatt mich beim Lesen zu stören.“
„Das hättst du wohl gern!“ Bei diesen Worten wird ihr schwindelig und sie lässt sich rasch in die Hocke sinken. „Ich sag dir, was ich denk. Ich denke, du bist pervers und krank im Kopf. Ich denke, es macht dir Spaß, Leute einzusperren und zuzugucken, wie sie leiden!“
Unbeeindruckt hebt der Maskierte die Schultern, während er sich wieder in seine Lektüre vertieft.
Aufgebracht starrt Lisette ihn an. „Du willst so tun, als wär ich nich da? Fein! Ich mach jetz nämlich alles kurz und klein hier.“ Damit erhebt sie sich langsam und marschiert zu einem der Regale. „Ich mein das ernst!“ knurrt sie drohend. „Ich zerfetz deine Bücher!“ Als er auch darauf nicht reagiert, nimmt sie einen dünnen Band vom nächsten Brett, klappt ihn auf und reißt eine Seite heraus; dann noch eine und noch eine, ohne damit auch nur ein Zucken des Maskierten provozieren zu können. Wütend schmeißt sie das Buch schließlich auf den Boden und bohrt den Absatz ihres Stiefels in den Einband. „Ich hör nich auf, bis du mit mir redest! Und wenn dir dein gebildetes Papierzeug egal is–“ Sie sieht sich um, dann geht sie zum Flügel hinüber und deutet auf die darauf liegende Geige. „Sone Fiedel is ganz schön teuer, oder?“
Untersteh dich!
Lisette schreckt zusammen, als der Maskierte unvermittelt auf die Füße springt und sich ihr mit großen Schritten nähert; doch sie unterdrückt den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. „Das tut dir also weh? Na prächtig!“ Sie packt das Instrument am Hals und hebt es über ihre Schulter, als wollte sie ihr Gegenüber, das nun stehengeblieben ist, damit angreifen. „Also, wie teuer is son Ding? Zwanzig Louis*? Dreißig? Ich hab leider keine Ahnung von sowas. Ich bin im Cours de Miracle* groß geworden, mit nem Messer in der Hand.“
„Warum machen Sie dann keinen Gebrauch davon?“
„Von- von meinem Messer?“
„Haben Sie nicht den Entschluss gefasst, sich endlich gegen Ihre Gefangenschaft aufzulehnen?“
„D- doch, aber–“ Irritiert runzelt sie die Stirn.
„Und sind Sie sich nicht im Klaren darüber, dass es Sie Ihrem Ziel nicht näher bringen wird, meine Musikinstrumente zu zerstören?“
„Es– wird– mich–?“
„Warum bringen Sie dann nicht Ihr Messer zum Einsatz?“
„Ich weiß nich, was du–“
Er stützt die Hände auf seine knochigen Hüften. „Töten Sie mich.“
Lisette schluckt, verwirrt und überrumpelt, und lässt die Geige sinken. „Du- du willst, dass ich dich–?“
„Im Winkel neben der Kommode am anderen Ende des Flurs finden Sie eine Zeichnung, die Ihnen einen sicheren Weg zurück an die Oberfläche weist, sowie eine Tasche mit meinem Barvermögen und einer ansehnlichen Menge ungefasster Steine, die Sie problemlos werden versetzen können, sofern Sie sich etwas seriöser kleiden. Nun entscheiden Sie sich! Benutzen Sie Ihr Messer, oder wollen Sie ewig hier unten festsitzen?“
Benommen tastet Lisette nach dem Flügel, um sich daran abzustützen. „Du hast mich entführt, damit ich dich umbringe? Das– das is doch verrückt! Warum machst dus nich einfach selber?“
„Garantieren Sie mir, dass es keine Hölle gibt?“
Sie stößt die Luft aus und reibt sich die Stirn. Wenn er wüsste, was sie für diese Sicherheit geben würde. „Und warum willst du sterben?“
„Das ist irrelevant. Töten Sie mich des Geldes wegen.“
Schnaubend wirft sie das Kinn auf und kann sich gerade noch verbieten, auszuspucken. „Ich bin vielleicht ne Hure, aber das heißt nich, dass ich meine Seele verkauf!“ Sie kreuzt die Arme vor der Brust. „Sag mir deinen Namen.“
Der Maskierte misst sie mit einem nachdenklichen Blick, ehe er reagiert. „Erik.“
„Ich heiß Lisette. ‚Belle‘ für meine Freier.“ Vorsichtig legt sie die Geige zurück auf den Flügel und streicht mit beiden Händen über das schmutzige graue Leibchen ihres Kleides. „Warum will einer sterben, der so reich is und so viele Bücher hat und auf nem Klavier und ner Fiedel spielen kann?“
„Sie vergessen mein ansprechendes Äußeres.“ Langsam geht Erik wieder zu seinem Sessel hinüber.
„Aber das kann doch nich alles sein. Du bist alt, das heißt, du weißt, wie man sich durchbeißt, genau wie ich. Warum willst du jetz aufgeben?“
Er zögert, doch schließlich gibt er leise Antwort. „Ich dachte, ich besäße etwas sehr kostbares. Ich habe es auch so behandelt, als wäre es mein, aber — es hat mir niemals wirklich gehört, und nun ist es fort.“
Stirnrunzelnd setzt sich Lisette auf den Boden an der Wand neben dem Kamin. „Du hast was geklaut?“
„Auch. Aber darum geht es hier nicht.“ Er lässt sich auf seinem Platz zurücksinken. „Nicht jeder Schatz besteht aus Silber und Gold.“
„Also wars ein Mensch? Und nun hast du Liebeskummer.“
„Sie verstehen nicht!“ Seine langen Finger krampfen sich um die Armlehnen. „Christine hat mir alles bedeutet. Ihre Stimme war eine Offenbarung, und ihr Wesen war so wunderschön, anmutig, warm — Es gab Momente, in denen ich tatsächlich geglaubt habe, dass sie mich lieben könnte, mich!“
Beleidigt wendet sich Lisette ab. „Ich versteh sehr gut, was du da fühlst. Ich hab nur nich die richtigen Worte, ums zu sagen. Auch Huren können sich verlieben. Ich kannte diesen Mann, der war–“ Sie seufzt, halb schwärmerisch, halb traurig. „Ich hätt mich vor ihn hinstellen mögen und sagen: ‚Ich würd alles für dich tun, wenn du mich nur lieben würdest.‘ Und ich hätts auch so gemeint. Aber ich habs gelassen weil ich mir gesagt hab: ‚Lisette, was du dir da baust, is ein Luftschloss. Du bist Dreck und er is viel zu gut für dich.‘ Deshalb bin ich noch immer allein.“ Sie sieht auf, als sich Erik erhebt und das Zimmer verlässt. Kurz überlegt sie, ihm zu folgen, entscheidet sich aber dagegen.
„Ich habe hier etwas für Sie.“ erklärt er, als er zurückkehrt.
Sie zieht die Schultern hoch. „Irgendwas sagt mir, dass es kein Blumenstrauß is–“
Wortlos setzt sich Erik vor Lisette auf den Teppich und blickt in ihr Gesicht, während er ihr einen Dolch in einer schlichten silbernen Scheide hinhält.
„Du- du meinst das alles ernst?“ Ängstlich presst sie sich gegen die Wand. „Aber es- es gibt doch bestimmt- Du kannst doch nich einfach aufgeben!“
„Lisette.“ Irgend etwas in seiner Stimme zwingt sie, ihn anzusehen, während er seine Maske absetzt. „Allein meine Entstellung nimmt mir alle Rechte als Mensch und macht mich in den Augen der Welt lebensunwert. Und wenn du wirklich verstehst, was es für mich bedeutet, Christine, verloren zu haben-“
„Die war doch bloß ne dumme Schnepfe!“ unterbricht sie ihn hastig. „Und ich hab Kriegsversehrte und Leute mit Syphilis gesehen, die warn schlimmer dran als du. Es gibt bestimmt wen, der dich trotzdem-“ Sie verstummt, als Erik den Dolch aus der Scheide zieht. „Aber ich- ich kenn dich doch gar nich.“ wispert sie tonlos, während er ihr das Heft mit Nachdruck in die Hand legt und ihre Finger darum schließt. „Ich weiß nich wer- wer du bist! Ich kann das nich für dich tun, wenn ich nich weiß, wer du bist!“
„Dann sage ich es dir: Ich bin ein Mörder und ein Folterer. Mein Leben lang bin ich vor der Vergangenheit geflohen, von einem Land ins nächste, doch überall haben mich die Menschen aufs Neue gefürchtet und gehasst. Ich wurde misshandelt, in einem Käfig ausgestellt, meine Talente missbraucht. Dafür habe ich mich in einer Grausamkeit gerächt, die jeder Beschreibung spottet. Ich verdiene nicht, dass mich jemand liebt, und ich kann nichts nehmen, das mir nicht zusteht; das hat Christine mir gezeigt.“ Er schüttelt den Kopf. „Es ist mir gleich, wie und warum du es tust, nur tu es. Töte mich.“
Zitternd presst Lisette eine Hand auf ihren Mund, als Eriks wenige Worte ihr eigenes Leben vor ihre Augen treten lassen. Gewalt, Verfolgung, Entwürdigung, Einsamkeit, das Wissen, vor den Augen der Welt in Ungnade zu leben, brennender Hass, der im Bauch rumort und jedem ‚menschlichen‘ Wesen an die Gurgel gehen will – all das muss auch sie ertragen. Und auf diesem Boden gedeiht der Wunsch nach einer endgültigen Flucht, schnell und stetig wachsend mit jedem Tag, an dem sie ihren Körper auf der Straße feilbieten muss, jedem ungewaschenen Freier, jeder Zwangsuntersuchung, jedem Verhör, jedem Karteieintrag, jedem stinkenden, verlausten Zimmer, das sie mit ihrer Lenden Arbeit bezahlt.
Ja, sie kennt und versteht alles, was Erik ihr zu sagen versucht, bis ins letzte ekelhafte Detail des Gefühls, nicht einmal mehr ein Recht auf Hoffnung zu haben.
Und doch–
„Du- du darfst aber nich aufgeben! Und ich- kann das nich tun!“ Sie schluchzt. „Ich will nich, ich hab noch nie wen umgebracht!“
„Bitte, Lisette.“ Seine Stimme ist kaum zu hören. „Bitte, töte mich. Erlöse mich von all dem.“
„Und- und dann?“ fragt sie hilflos.
„Dann verlässt du mein Haus, beichtest bei einem Priester und suchst dir ein schönes sauberes Heim in einem angesehenen Viertel. Wenn du dich zu bescheiden weißt, hast du mit dem Inhalt der Tasche für den Rest deines Lebens ausgesorgt.“
Fahrig zerrt Lisette ein Tuch hervor, um sich zu schneuzen. Danach wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schweigt, ängstlich und völlig verunsichert.
„Ich werde dich nicht zwingen.“ erklärt Erik nach einer Weile. „Wenn du es wirklich nicht kannst oder willst, entschädige ich dich angemessen für deine Zeit und bringe dich zurück an die Oberfläche. In Paris leben viele Verzweifelte. Eine von ihnen wird bereit sein, es zu tun.“
Flehend sieht Lisette ihn an, doch er geht nicht darauf ein. Stattdessen meint sie zu spüren, wie er das, was eben noch für sie geöffnet war, sorgfältig wieder verschließt.
Er hat kapituliert, vollständig und unwiderruflich; und wenn sie sich nicht überwindet, wird es damit enden, dass ihn irgend ein herzloses Weib für ein bisschen Geld absticht, wo sie, Lisette, ihm aus ihrer spontanen und tiefen Zuneigung heraus hätte helfen können, endlich Frieden zu finden.
Sie reibt sich über das Gesicht, und schließlich umklammert sie den Dolch mit beiden Händen. „Hast du einen- einen letzten Wunsch?“
„Nein.“
Lisette presst die Lippen aufeinander, dann senkt sie ihren Blick auf die Waffe. Sie hat in ihrem Leben erst einen einzigen Mord beobachtet: Ein Freier schnitt einer Hure auf der anderen Straßenseite die Kehle durch. Als Lisette das Mädchen erreichte, war es schon tot; es ging also schnell und war vielleicht nicht allzu schmerzhaft–
Zögernd rutscht sie hinter Erik. Dort erhebt sie sich auf die Knie, zieht ihn sanft an sich und umfasst sein Kinn mit ihrer Linken, damit er den Kopf an ihre Brust lehnt.
In seinen Augen liegt Dankbarkeit, ehe er sie schließt und nach Lisettes Rocksaum tastet, um seine Finger hineinzukrallen.
Ohne recht zu wissen warum, küsst sie seine Stirn. Dann presst sie die Klinge so fest sie kann an seinen Hals und reißt sie mit einem Keuchen durch sein Fleisch.
Blut, sehr viel Blut, befleckt ihre Finger, als sie Eriks Körper vorsichtig auf den Teppich bettet. Sie faltet seine mageren Hände, wie man es bei Toten zu tun pflegt, und legt die Maske auf sein Gesicht, weil sie das Gefühl hat, dass er es so gewollt hätte.
Als sie endlich aufhören kann zu weinen, wäscht sie sich und zieht eines der Kleider aus dem Schrank in ihrem ehemaligen Gefängnis an. Danach nimmt sie die Tasche mit dem Geld, benutzt die geheime Haustür, wie Eriks Zeichnung es beschreibt, und verlässt die Oper.
Sie weiß nicht genau, wohin sie gehen will, doch auch hier wird sie Eriks Wunsch entsprechen. Ihr neues Zuhause wird ein Zimmer weit fort von der Rue des Martyrs und dem Boulevard de Clichy sein. Ein sauberes Zimmer mit einem sauberen Bett, in dem nur sie allein wird liegen dürfen. Sie allein und niemand sonst.
Nur ihre Beichte wird sie herauszögern solange sie kann. Es geht niemanden etwas an, nicht einmal Gott, was in dem Haus unter der Oper zwischen ihr und diesem rätselhaften Mann geschehen ist.
Und es war kein Verbrechen.
Das war es ganz sicher nicht.

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*Perche: Alte frz. Maßeinheit – 1p = 10m
*Louis: Ugs. für “Louis d“Or“, eine Goldmünze
*Cours de Miracle: Elendsviertel von Paris

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