Kuwe-Änderungen 01.0: Louis‘ erste Rückblende

/ Oktober 14, 2011

Falls sie jemand lesen möchte, befinden sich die Textstellen, die ich meine, hinter den Spoilerbuttons am Ende dieses Posts.

Die Überarbeitung, die ich in dieser ersten Rückblende vorgenommen habe, behandelt im Wesentlichen zwei Punkte:

Erstens: Louis‘ Geburt und seine Lebenssituation bis 1967

  • In der alten Version wird das meiste nur angedeutet und ich musste erklären, wie es sein konnte, dass ein lebend im Krankenhaus geborenes Kind als Totgeburt in die Annalen der französischen Demographie eingehen konnte. Bestechung, im Ernst? So wohlhabend ist Marguerite zu dem Zeitpunkt einfach noch nicht. Außerdem ist sie zwar vom Leben abgehärtet und hat ihre erlernten Ängste, aber als Mutter ist sie nun wirklich kein Unmensch. Um die Abwärtspirale in die Gewalt in Gang zu setzen, an deren Tiefpunkt ihre Ermordung steht, braucht es mehr Traumatisierung als eine Niederkunft im Krankenhaus liefern kann.
    Sie musste alleine sein, voller Angst, überfordert – also verpassen wir ihr eine Sturzgeburt, ohne Vorwarnung und mitten in der Nacht, damit die Hebamme auch lange genug braucht, um anzukommen. Hier haben ich übrigens den Vorteil der Epoche vor Erfindung des Cellphones: Die Hebamme kann Marguerite nicht unterstützen, während sie unterwegs ist.
  • Das alte Szenario mit der Bestechung zeichnet ein negatives Menschenbild. Es entsteht der Eindruck, dass es Louis hätte besser gehen können, wären nicht all diese bösen, herzlosen Menschen zusammengekommen, um ihm in die Suppe zu spucken, noch ehe er seinen ersten Schiss getan hat. Ich mag sowas nicht. So eine Dichotomie von ‚Hier sind die Guten, Missverstandenen‘ und ‚Hier sind die Bösen, wegen denen alles schiefgeht‘. Ich glaube nicht an böse Menschen. Aber ich glaube an Angst, unintendierte Folgen, mangelnde Voraussicht und destruktive Beziehungsdynamiken.
    Geben wir Marguerite also eine freundliche, fürsorgliche Hebamme an die Seite, die mehr als nur Verständnis für die irrationalen Ängste ihres Schützlings hat. Natürlich brauchen wir eine gewisse Illegalität, um die Lebendgeburt eines Kindes zu unterschlagen, aber auch hier reichen gute Absichten und unerwartete Entwicklungen aus, um alles zu erklären.
    Ich persönlich finde es tragischer, wenn Dinge schiefgehen und man niemandem so wirklich einen Vorwurf machen kann, weil alle Beteiligten ihre Entscheidungen nach ihrem besten Vermögen getroffen haben. Setzen wir also Abläufe in Gang, die sich über mehrere Schritte (und nicht in einem einzigen ‚Ups, dumm gelaufen‘-Moment) voneinander weg anstatt auf ein gemeinsames erwünschtes Resultat zu entwickeln.
    Was dieses ‚Ups, dumm gelaufen‘ angeht… Es gibt kaum etwas, das mir in Geschichten mehr auf den Sack geht, als wenn ein entscheidender Twist der Handlung darin besteht, dass irgend ein blöder Zu- oder Unfall passiert. Das ist so billig und wirkt irgendwie immer hingerotzt. Genau wie diese herkonstruierten Missverständnisse, mit denen man in romantischen Komödien die Beziehungsstreits erklärt (soweit ich mich erinnere, ist das oft so; ich hab mir schon ewig keinen Chick Flick mehr antun müssen)

Zweitens: Warum macht sich Louis auf, Marguerite zu besuchen?

  • Auch das wird in der alten Version nur angedeutet. Aber angesichts meiner vielen Hinweise darauf, dass Louis vor ’69 große Angst vor Menschen hat und glaubt, sie würden ihm etwas antun, kaum dass sie seiner ansichtig würden, braucht es für den Kleinen doch einen gewaltigen Anstoß, der über eine non sequitur eingeleitete Hoffnung auf Versöhnung hinausgeht. Er braucht einen handfesten Grund zu der Annahme, dass in Marguerite mehr Emotionen stecken, als bloß der Hass und die Wut, die er immer zu spüren bekommt. Er muss etwas Zugängliches an ihr entdecken, und das muss extrem offensichtlich und greifbar sein, damit auch ein Kind, das nicht viele Erfahrungen mit den Emotionen anderer Leute hat, es erkennen (und daran glauben) kann.
  • Beim Mord selber habe ich Wert darauf gelegt, deutlich zu machen, dass Louis zuerst überhaupt nicht versteht, was passiert ist. Er geht voller Unschuld vor – gut, ich gestehe, ich lasse etwas Ambivalenz bestehen, damit die Szene schön creepy und unbehaglich wird – und braucht eine ganze Weile, um überhaupt zu begreifen, dass er Marguerite getötet hat.
  • Seine emotionale Reaktion ist in der alten Version auf das Wesentliche verkürzt und seine Gedanken werden überhaupt nicht dargestellt. Das wäre in Ordnung, wenn ich Louis die ganze Geschichte hindurch sehr geschlossen lassen würde, aber das Gegenteil ist ja nun der Fall. Es stellte sich also die Frage: Was geht in seinem Kopf vor?
    Hehe… Unter anderem Folgendes:
    Eine gezeichnete Figur mit begeistert aufgerissenen Augen und weit aufgerissenem Mund, eine Faust über den Kopf nach oben gereckt, in der anderen ein blutiges Messer. Die Figur ist über und über mit Blut bekleckst. Über der Figur steht der Text (Englisch): Visit all the continents.)
    (Für alle n00bs, die das Meme nicht kennen: X all the Y! stammt aus dem wundervollen Erzählblog von Allie Brosh – Hyperbole and a half – das ihr auf jeden Fall besuchen und lesen müsst, sobald ihr diesen Artikel hier durch habt. Allie ist nämlich absolut genial.)
     
     
    So in Richtung 1990 wird daraus dann:
    Eine gezeichnete Figur mit hängenden Schultern und dramatisch heruntergezogenen Mundwinkeln. Über der Figur steht der Text (Englisch): Visist all the continents?
    Der arme Kleine *tätschel*
     
     
     
     
    Naja, wir lernen jetzt jedenfalls sehr viel mehr über die Beziehung zwischen Louis und Marguerite, vor allem von Marguerites Seite aus. Es kommt später noch ein kleiner Einblick in Marguerites frühe Biographie – erzählt von Sérafine – um ihr mehr Fülle zu geben und ihr Verhalten auch auf anderen Ebenen zu mehr als einer blanken Notwendigkeit der Geschichte zu machen.

Ich hatte eigentlich noch einen dritten Punkt ansprechen wollen, der fällt mir nur leider gerade nicht mehr ein. Aber das macht ja nichts. Denn für diese Fälle steht eine .0 hinter der Artikelnummer. Jaha, ich kenne mich und habe die Möglichkeit von Nachträgen schon im ersten Konzept dieser Artikelreihe berücksichtigt. Voraussicht:1 – Vergesslichkeit:0. Yeah, Baby.

Und nun für alle, die sich gern ansehen würden, worüber ich jetzt so lang und breit berichtet habe:

EDIT: Ich habe noch weiter editiert, weshalb die neue Version mittlerweile auch veraltet ist… Wer mehr darüber lesen will, kann das in diesem Post hier tun.

Hier ist die alte Version

Er legt seine Hände an die kühle Scheibe und versucht, die Lichtung auszumachen. Da vernimmt er plötzlich das kalte, harte Geräusch von Holz gegen Glas, mit dem seine Maske an das Fenster stößt.
Wie er dieses Geräusch hasst! Wie er seine Maske hasst! Wie er das hasst, was die Maske versteckt! Dieses grotesk verformte Ding, das sein Gesicht darstellt! Diesen geballten Haufen abstoßender Hässlichkeit, der Mutter einst dazu veranlasste, sich das Schweigen derer, die an seiner Geburt beteiligt waren, zu erkaufen. Sie ließ ihn als Totgeburt registrieren, als schrecklichen Klumpen toten Fleisches, der die Alpträume werdender Mütter durchzieht.
Doch er war nicht tot. Auch wenn er es oft genug hatte sein wollen.
Warum Marguerite ihn nach der Registrierung nicht einfach irgendwo ausgesetzt hat, ist ihm nie ganz klar geworden. Vielleicht drängte ihre Freude über das andere, das hübsche Kind, den Ekel und die Abscheu in diesen ersten Tagen noch ein wenig zurück, so dass sie entschied, ihn nur auf dem Papier sterben zu lassen. Dann waren das Haus gekauft und die drei Kindermädchen verpflichtet und es gab kein Zurück mehr.
Man hätte Mutter diese andere Reaktion auf sein Gesicht jedoch nicht verdenken können, denn sie, eine durch eine ominöse Vaterschaftsklage reich gewordene Schauspielerin und ‚Künstlerin‘, war eine Frau, die die Schönheit über alles liebte. Welch ein Schock für sie, erkennen zu müssen, dass sie die personifizierte Hässlichkeit neun Monate lang in ihrem Leib getragen hatte.
Wie er sie gehasst hat! Doch er hat sich für all ihre Lügen und ihre Ungerechtigkeit angemessen gerächt.
Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Noch ein letztes Mal in düsteren Erinnerungen voller Hass, Gewalt, Blut und Glück schwelgen. Wenn die Frau in seinem Haus ist, sollte er sich diese Gedanken sicherheitshalber nicht mehr gestatten.
Heute Nacht! Heute Nacht wird er sie holen und sein Werk wird endlich geschaffen werden. Er wird endlich sein Schicksal erfüllen.
Mit grimmigem Widerwillen lässt er seine Gedanken zu Ludwigs Zeit in Rouen zurück treiben. Zehn Jahre lang quälte er sich durch eine unwürdige Existenz. Marguerite zwang ihn zum Malen und gab seine Bilder als ihre aus; er war ein Gefangener, bewacht von seiner sorgsam geschürten Angst vor der Außenwelt und seinen Kindermädchen, drei dummen, unerfahrenen jungen Dingern, Adèle, Cécile und Dickens, die den Fehler gemacht hatten, sich für ganze zwölf Jahre zu verpflichten – allein die Tatsache, dass sie mehr als das Dreifache eines durchschnittlichen Kindermädchengehaltes bekamen, und Marguerites verschwenderische Art, mit Strafe umzugehen, hielten sie davon ab, ihren Vertrag zu brechen und einfach davonzulaufen; doch sie zählten voller Ungeduld die Monate, die sie seine Launen noch ertragen mussten.
Was ließ er sich nicht alles einfallen, um die Mädchen in den Wahnsinn zu treiben. Er ließ Céciles Groschenromane und Adèles Nähzeug verschwinden, Kleider, Vorhänge, ganze Möbelstücke, er trennte Nähte auf und nähte Ärmel zu, sorgte dafür, dass das Haus tagelang nach Schwefel oder Buttersäure stank, jedoch niemand die Quelle dieses Gestanks finden konnte, versah die Mädchenzimmer mittels Bindfäden und chemischen und mechanischen Kettenreaktionen mit ‚Poltergeistern‘. Die drei dummen Hühner sahen ihre körperliche Gesundheit durch sein Lieblingsspiel, kleine pyrotechnischen Experimente, bedroht und flehten Mutter an, ihm seine Chemikalien zu nehmen; doch nachdem sie sein Labor ausgeräumt hatten, begann er, sich auf Sprengstoff aus Wasch- und Putzmitteln, Batteriesäure, Backzusätzen und anderen Haushaltsutensilien zu spezialisieren. Seine Bibliothek mit den Naturwissenschaftsbüchern. Adèle, Cécile und Dickens, besonders Dickens, verfluchten sie beinahe wöchentlich aufs Neue. Und sein Einfallsreichtum kannte keine Grenzen.
Doch plötzlich verdunkelt sich sein Blick. Mutters Prüfungen dringen in sein Bewusstsein: „Komm her! Zeig mir deine neuen Arbeiten! Nicht so lahm, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Jetzt gib schon her! Da hast du schon wieder den Stil gebrochen! Kubistisch hatte ich gesagt, kubistisch! Ist das so schwer zu begreifen, du kleiner Idiot? Hör verdammt noch mal endlich auf, alles so naturgetreu zu arbeiten! Und wie stellst du dir das eigentlich vor? Du hast nur noch drei Monate Zeit, aber erst ein Bild fertig! Sag mal, faulenzt du den ganzen Tag? Werde ja nicht frech! Wenn ich wegen dir die Eröffnung meiner Ausstellung verschieben muss, werde ich dich bestrafen, dass du es dir demnächst dreimal überlegst, bevor du meine Aufträge nicht richtig ausführst, du hässliches kleines Monster!“
Er verabscheute ihre keifende, spitze Schimpfstimme, doch er wagte nie, sich ernsthaft gegen sie zu erheben. Statt dessen ließ er seine Wut an den drei Mädchen aus. Mutters Strafen waren jedes Mal fürchterlich. Sie schlug ihm die Handflächen wund und sein Rücken war mit Striemen übersät. Er hat etliche Narben aus dieser Zeit.
Manchmal lobte ihn Marguerite natürlich auch, wenn er sich Mühe gab und wirklich gut malte, ab und zu lächelte sie ihn dabei sogar an; kurz nur, doch sie lächelte mit warmen, leuchtenden Augen, und legte sanft ihre Hand auf seine Schulter.
Er versucht sich einzureden, dass ihm ihr Lob und ihre Nähe nichts bedeutet haben, aber dann muss er doch wieder irgendwo in einem dunklen, verborgenen Winkel seiner Seele einsehen, dass das nicht stimmt und er für dieses bisschen Wärme gelebt hat. Es schmerzt, doch es ist so.
Wie oft hat er davon geträumt, dass sie ihn in den Arm nimmt und sanft über sein Haar streicht, freundlich zu ihm spricht, ihm die Maske abnimmt und seine entstellten Wangen mit sanften Mutterküssen bedeckt? Sie hat es nie getan. Jetzt ist sie tot…
… Er saß an ihrem Bett. Er sagte ihr, dass sie im Unrecht ist, er sei ja gar nicht mit Absicht immer so böse, er wolle sie nicht immer ärgern, er wolle sich bessern und fortan brav sein; wenn sie ihn nur in den Arm nehmen würde wie in seinen Träumen, ihm sagen würde, dass er ein Mensch ist wie jeder andere, und ihr Kind. Doch sie war außer Stande, seine Bitte zu erfüllen. Statt dessen lachte sie kalt, bedrohte und beschimpfte ihn mit den altbekannten Worten. Es würde für immer so sein.
Dann wollte sie schreien, doch er legte ihr nur leicht die Hand auf den Mund und bohrte das Messer noch ein Stück tiefer in ihren Leib. Er traf die Schlagader.
Das Blut sprudelte aus ihrem Körper wie aus einem Brunnen, während sich ihre grünen Augen weiteten und schließlich glasig wurden. Ihre Hände wanderten zitternd vor Angst und Schmerz über ihren Bauch und nachdem er das Messer aus ihr herausgezogen hatte, wiesen sie ihm den Weg zur Quelle des warmen, roten Stroms. Er setzte seine Maske ab, tauchte seine Hände in Mutters Blut und bedeckte sein Gesicht damit wie einst Ritter Siegfried, der in dem Blute des besiegten Drachen badete und unverwundbar wurde. Dann starrte er für eine Weile sinnend und glücklich an die weißen Wände des Schlafzimmers und stellte dabei fest, dass es schön sein würde, sie mit der Landschaft dieser überschäumenden Gefühle zu bemalen.

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Und hier die neue

Er legt eine Hand an die kühle Scheibe und versucht, die Lichtung auszumachen. Da vernimmt er plötzlich das kalte, harte Geräusch, mit dem seine Maske an das Glas stößt. In einer Aufwallung von Hass zieht sich sein Magen zusammen. Hass auf das Geräusch, Hass auf die Maske, Hass auf das, was sich dahinter verbirgt; dieses grotesk verformte, knochige Ding, das Marguerite einst dazu bewog, ihn zu verlassen und zur Totgeburt zu erklären.
Er hat nie verstanden, warum sie ihn nach seiner sturzartigen Ankunft auf der Welt nicht einfach mit ihrem Federbett erstickt hat. Es wäre so leicht gewesen und hätte ihr so viel Ärger ersparen können. Doch stattdessen torkelte sie auf den Flur hinaus, wild schluchzend, das andere Kind an ihre nassgeschwitzte Brust gepresst. Vielleicht wollte sie nicht, dass das erste, was dieses Kind in seinem Leben sah, ein Mord war.
Céciles Legende nach erreichte die Hebamme in just diesem Moment das Haus des Grauens und war so freundlich, die vollkommen hysterische Mutter für eine Zeit bei sich aufzunehmen. Sie schickte sogar in der selben Nacht noch einen verschwiegenen Arzt zum Haus, damit dieser den Tod des verkrüppelten Säuglings feststellte und den Leichnam entsorgte. Der verschwiegene Arzt meldete jedoch bald, dass der Krüppel noch lebe, weshalb er das grässlich Ding versorgen werde, bis es in wenigen Tagen seinen – sicher auch organischen – Deformitäten erliege. Die wenigen Tage kamen und gingen, doch der Krüppel lebte ungeniert weiter. Und schließlich – etwa zu der Zeit, als Marguerite ihr neues, sehr kleines Haus in Bernières-sur-Seine bezog – weigerte sich der verschwiegene Arzt, seine eigenen Angelegenheiten noch länger zu Gunsten des Krüppels zu vernachlässigen. Also organisierte die Hebamme eine durchaus kostengünstige Alternative: Adèle und Cécile, zwei noch sehr junge Mädchen, an denen sie Abtreibungen vorgenommen hatte, und die nur zu glücklich über die Aussicht waren, dem Wirkungskreis ihrer Vergewaltiger dauerhaft zu entkommen.
Zehn Jahre lang bewachten sie Ludwig, schürten seine Angst vor der Außenwelt und versuchten, ihm durch Anschreien, stundenlanges Ignorieren, Verbannungen in den Kohlenkeller und Schläge so etwas wie menschliches Verhalten beizubringen. Das einzige, was ihn zur Raison bringen konnte, waren jedoch Marguerites Rohrstock und der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der ihn daran erinnerte, dass es für sie nur angenehme Konsequenzen haben würde, sollte sie ihn eines Tages versehentlich zu Tode prügeln.
Dabei gab er sich ehrlich Mühe, etwas Wertvolles zustande zu bringen, das den ständigen Ärger aufwog, den er verursachte. Und rein Handwerklich wäre es auch ein Leichtes für ihn gewesen, Marguerites Bleistiftskizzen in der von ihr gewünschten Weise auf eine Leinwand zu übertragen. Doch wenn er sich nicht in einem Maße konzentrierte, dass er hämmernde Kopfschmerzen bekam, ergriff der Fluss von ihm Besitz und gab den einfarbigen Flächen Tiefe und den primitiven Formen Komplexität.
Der Fluss ließ Schönheit entstehen, und Ludwig verabscheute das Zucken in Marguerites Miene, das ihm verriet, dass sie die mühsam wieder getilgten Spuren dieser Schönheit entdeckt hatte und sie aus tiefstem Herzen missbilligte. Auf das Zucken folgte stets ein Luftholen, und auf das Luftholen folgte schrilles, zorniges Gezeter, ob es ihm Spaß mache, sich dämlich zu stellen, ob er den Eindruck habe, dass sie nichts besseres zu tun hat, als sich mit seiner Sturheit herumzuschlagen, ihre Anweisungen seien nun wirklich für Blöde formuliert gewesen, ob er überhaupt zu etwas zu gebrauchen sei, oder ob es ihm gefiele, sie nur Geld zu kosten, das sie nicht habe; ob er es denn wirklich nicht lassen könne, sich immer und immer wieder Schläge abzuholen.
Er hasste sie, hasste jeden einzelnen Knochen ihres Körpers, jedes Organ, jede Sehne, jeden Muskel, der ihr schönes Gesicht verzerrte, sobald sie ihn ansah, jedes Haar in den Wimpern, die ihre zornigen blauen Augen umrahmten.
Jetzt ist sie tot. Dabei hatte er sie gar nicht umbringen wollen, im Gegenteil. Er hatte sich noch größere Mühe als gewöhnlich gegeben, artig zu sein, genau so wie Sérafine es ihm gesagt hatte; doch je mehr er sich zusammenriss, desto schlechter betrug er sich wenn er müde war, oder Wut bekam, oder wenn Adèle die Einrichtung umstellte, oder wenn er neue Kleider bekam, die nicht so aussahen, wie die alten. Dann eines Tages, als sie ihn wieder einmal zum Weinen gebracht und er entgegen ihres Befehls die Maske abgenommen hatte, um besser Luft zu bekommen, schlug sie ihm mit dem Rohrstock ins Gesicht. Danach weinte er nicht mehr, sah sie nur mit leerem Blick an, während sie auf das Blut starrte, das aus der Platzwunde über seinem Wangenknochen quoll.
„Mein Gott, was hab ich getan!“ schluchzte sie plötzlich auf. „Mein armes Kind, was hab ich dir nur angetan!“ Er zuckte zurück, als sie vor ihm auf die Knie fiel, doch sie bekam ihn zu fassen und zog ihn fest an sich. „Mein armer Junge, es tut mir so leid, so leid!“ hörte er sie in sein strähniges Haar flüstern, während er ihren Klammergriff starr über sich ergehen ließ.
Er verstand nicht, was vorging, und als er Sérafine um eine Erklärung bitten wollte, wartete er vergeblich, denn es regnete und sie kam nicht zu ihm heraus. Seine eigenen, unvollkommenen Vorstellungen davon, warum Menschen bestimmte Dinge tun, führten ihn schließlich zu der Überzeugung, dass Marguerite früher nicht bemerkt hatte, dass ihm ihre Schläge wirklich sehr weh taten, und dass sie aufhören würde, ihn zu schlagen, wenn sie nicht Angst davor hätte, dass er sich rächen würde, sobald sie ihm nicht mehr auf diese Weise ihre Überlegenheit bewies. Er wollte sich natürlich an ihr rächen, aber wenn es nötig wäre, damit sie aufhörte, ihn zu schlagen, würde er versprechen, darauf zu verzichten. Ja, er musste nur mit ihr darüber reden, ganz freundlich, so wie Sérafine es ihm beigebracht hatte. Und zwar sofort; ehe ihn die Unruhe über die Aussicht, nicht mehr misshandelt zu werden, noch verrückt machte.
Die Angst, entdeckt zu werden, ließ sein Herz rasen, doch er fand sich zurecht und erreichte Bernières-sur-Seine lange vor dem Morgengrauen. Seine Hände um die Landkarte und den Griff seines Messers geklammert, suchte er nach einer Möglichkeit, in Marguerites Haus zu gelangen. Als er schließlich durch ein offenes Fenster geklettert war und Mutters Schlafzimmer gefunden hatte, legte er beides auf das Schränkchen neben ihrem Bett.
„Mama?“ Er kannte das Wort nur aus Büchern und es fühlte sich merkwürdig an in seinem Mund. Klobig, wie ein zu langes Fremdwort. „Mama!“
„Was ist denn?“ murrte sie, als er zögernd ihre Schulter berührte.
„Mama, ich bins — Ludwig.“
Mit einem plötzlichen Ruck drehte sie sich um und setzte sich auf. „Was machst du hier?“ zischte sie gedämpft, während sie nach dem Schalter der Lampe über dem Kopfende ihres Bettes tastete. „Was willst du?“ Sie blinzelte in die plötzliche Helligkeit. „Ich hatte dir verboten, das Haus zu verlassen!“
„Aber ich hab doch ein Messer.“ erklärte er hastig. „Ich kann mich verteidigen.“
Diese Mitteilung schien sie nicht zu beruhigen, im Gegenteil. Sie verlor ihre zornige Röte und starrte auf die Klinge, die er ihr zum Beweis seiner Worte entgegenhielt. „Leg das sofort wieder in!“ flüsterte sie heftig. „Ich warne dich, du kleines Monster, wenn du mir damit zu nahe kommst, kannst du was erleben!“
Er gehorchte eilig, und kaum hatte er die Waffe losgelassen, schnappte Marguerite sie, um ihn damit zu bedrohen. „Verschwinde hier, los!“ Sie schrie ihn nicht an, aber er stolperte trotzdem erschrocken einen Schritt rückwärts. „Mach, dass du hier wegkommst, ich will dich nie wieder sehen!“
Enttäuscht presste er die Lippen zusammen. Dann zog er sich die Maske vom Gesicht, damit sie die Wunde sehen konnte, die sie ihm geschlagen hatte. „Mama, ich will–“
„Nenn mich nicht so, du kleines Monster! Verschwinde! Los! Verschwinde aus meinem Leben!“ Ihre Stimme hatte zu zittern begonnen, und die letzten Worte waren ein Schluchzen. Die Hand, die das Messer hielt, sank auf ihr Knie, die andere schlug sie vor ihr Gesicht, während sie weinte.
„A-aber–“ begann er stotternd.
„Verschwinde!“
Sie wollte nicht mit ihm reden. Nicht anhören, was zu versprechen er gekommen war. Sie wollte, dass er zurück nach draußen ging, zu den Menschen, die ihm weh tun würden, sobald sie ihn entdeckten.
Was dann geschah, musste er nicht beschließen; seine Arme und Beine wussten ganz von selbst, was er wollte.
Ein großer Schritt trug ihn zum Bett hinüber. In der selben Bewegung beugte er sich vor, krallte seine Finger in Marguerites Handgelenk, drehte es und stieß die Klinge mit der ganzen Wucht seines Gewichts in ihren Bauch.
Ein dumpfes, entsetztes Stöhnen streift sein Ohr. Atem, der plötzlich schnell und flach ging. Sie versuchte, ihn von sich zu schieben, doch das Messer schien ihr alle Kraft genommen zu haben. Salzige Tropfen lösten sich von ihren Wimpern und fielen auf sein Gesicht und ihre Hand, die sich zitternd auf seinen Kopf legte. „Bitte — könntest — du einen — Arzt rufen?“
„Ich weiß nicht wie das geht.“ Stirnrunzelnd löste er Marguerites Griff um das Heft des Messers; dann zog er es mir einer langsamen Drehbewegung aus ihrem Körper heraus. Ihre Atemzüge klangen dabei sehr angestrengt. Blut begann zu fließen, Schwall um Schwall um Schwall, und er stellte sich vor, wie es auf der Matratze einen See bildete. Fische ließen sich an die Oberfläche treiben und sanken wieder hinab, wie Geister, die die Grenze zwischen zwei Welten berührten. Zögernd kroch er mit diesem Gedanken in die Höhle, die Marguerites nach vorn gesackter Oberkörper und ihr untergeschlagenes rechtes Bein bildeten. Es folgte kein Protest. Auch ihr Atem wurde leiser, und schließlich herrschte Stille.
Wohlig drückte er sein Gesicht in die Bettdecke über ihrer Leistenbeuge. Dort die Augen schließen und einschlafen zu können, wäre wundervoll gewesen. Doch er hatte nicht vergessen, dass er auch in Marguerites Haus nicht sicher war. Außerdem sickerte weiter Blut aus ihrer Wunde, und als der Bettbezug an seiner Schläfe zu kleben begann, setzte er sich auf, um Marguerites unbequem wirkenden Haltung zu mustern. Ob er ihr helfen sollte, sich wieder hinzulegen?
Kurzentschlossen packte er ihre Schultern und drückte sie nach hinten. Sie kippte langsam, kraftlos, dann schlug ihr Kopf gegen das Bettgestell.
Erschrocken zuckte er zusammen. „Entschuldige! Es tut–“ Stirnrunzelnd brach er ab, als seine Mutter ihn wider Erwarten nicht anschrie. Und schließlich wurde ihm klar, dass sie tot war. „Heh.“ lachte er leise, ehe er ihr eine Ohrfeige gab, von der ihm die Handfläche brannte.
Tausendmal hatte er sich schon vorgestellt, wie es wäre, in einer Welt ohne Marguerite zu leben, in der er ihm niemand vorschreiben konnte, was er malen sollte und wie. Jetzt war diese Welt auf einmal Wirklichkeit geworden.
Aufgeregt presste er beide Fäuste gegen seinen Mund. Er war frei! Seine Bilder waren frei! Niemand konnte ihn mehr zwingen, sich gegen den Fluss zu wehren! Alles, was er von nun an malte, würde schön sein. Wunderschön. Und er würde sich Frankreich ansehen! Europa. Ach, alle Kontinente! Und ein eigenes Haus würde er sich bauen, mit lauter Zimmern, in denen er die Wände anmalen könnte, und einem richtigen, großen Flügel, auf dem er die ganze Nacht spielen würde. Er würde nie wieder etwas essen, das mit Pfeffer gewürzt war. Und niemand – niemand – würde ihn jemals wieder schlagen oder beschimpfen.
Das Wohlgefühl, das bis eben noch seinen Körper überall dort bedeckte, wo er sich an Marguerite geschmiegt hatte, rann kribbelnd und prickelnd in seinem Magen zusammen, krabbelte an seinem Hals hinauf und flog als leises Kichern aus seinem Rachen. Doch damit hörte es nicht auf. Es prickelte weiter, zupfte in einem fort an seinen Mundwinkeln und nistete sich in seinen Lidern, seinen Schultern, seinem Nacken ein, ließ ihn die Arme über den Kopf heben und sich recken vor lauter — Freude. So viel Freude war in ihm, dass das Emporrecken nicht reichte, um sie aushalten zu können.

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