Schriftstellerin werden Teil 1: Die Brande-Methode

/ September 18, 2013

brande1(Der Rest der Serie: Teil 0, Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Brandes grundlegende Annahme in ihrem Buch ‚Schriftsteller werden‘ ist, dass es neben (und strenggenommen vor) dem klassischerweise als ‚handwerklich‘ bezeichneten Anteil des Schreibens – Wissen über Plotstrukturen, Satzbau, Charakterführung, Genres, Stile usw. – noch etwas anderes gibt, das man als Schriftstellerin verstanden haben muss. Das ‚Geheimnis‘ der Großen Schriftstellerinnen, nach dem alle suchen, die sich in Schreibkursen zusammenfinden.

Das Geheimnis lautet: Inspiration ist eine Frage der Herangehensweise.

Wie sie auf diese (banal klingende, in Wirklichkeit aber ziemlich geniale) Idee kommt und wie man sie für sich nutzen kann, um Schriftstellerin zu werden, erklären die folgenden drei Abschnitte – ‚Kunstschaffende an sich‘, ‚Wie eine Schriftstellerin leben‘ und ‚Die Schreibübung, aus der Schriftstellerinnen gemacht werden‘.

Kunstschaffende an sich

Brande beschreibt Kunstschaffende allgemein als Menschen mit drei Persönlichkeitsaspekten, die der Einfachheit halber als separate Personen behandelt werden.

  1. Das Unbewusste1.
    Es stellt eine Art innere Künstlerin dar, sensibel, launenhaft, kindlich in der Unvoreingenommenheit ihrer Betrachtungen, undiszipliniert, verträumt und (scheinbar) faul. Es mag das Bewusste nicht besonders, weil dessen ständige Kritiken und Ansprüche es verletzen und seine freie Entfaltung hemmen.
  2. Das Bewusste.
    Es stellt die innere Handwerkerin der Kunstschaffenden dar, die ergebnisorientiert, praktisch, kritisch, distanziert und voller Arbeitseifer ist. Es mag das Unbewusste nicht besonders, weil dessen Schlampigkeit und (scheinbar) schlechte Arbeitsmoral es an der Welt zweifeln lassen.
  3. Das Geniale.
    Was genau Brande sich darunter vorstellt, muss man erraten, aber so wie ich sie verstanden habe, meint sie damit den Umstand, dass das Unbewusste auch über handwerkliches Know-how verfügt (weil alles was der Erzähler weiß, weiß auch Tyler Durdan), so dass man theoretisch auch einen handwerklich sauberen Text mal eben so ohne viel Nachdenken runterschreiben kann.

Trotz ihrer von Natur aus erstmal wenig harmonischen Beziehung brauchen Unbewusstes und Bewusstes einander, weil ihre Fähigkeiten sich gegenseitig ergänzen. Die beiden zu friedlicher, wohlwollender Kooperation zu überreden, ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Schriftstellerin.
Mehr dazu im Abschnitt über Die Schreibübung.

Leben wie eine Schriftstellerin

Laut Brande kann man nur Schriftstellerin werden, wenn man auch so lebt wie eine.
Dazu sind folgende Maßnahmen vonnöten:

  1. Strukturiere deinen Tagesablauf so weit wie möglich um das Schreiben herum.
    Das bedeutet allerdings nicht dass nur Vollzeitschreibende Schriftstellerinnen sein können, sondern dass dem Schreiben ein fester Platz im eigenen Alltag gegeben werden soll, um den es mit nichts konkurrieren muss. Auch wenn man nur fünfzehn Minuten am Tag fürs Schreiben freischaufeln kann, kann man Schriftstellerin sein.

    • Es gibt feste Zeiten, zu denen geschrieben wird. Und zwar pünktlich auf die Minute. Keine Ausreden. KEINE! (Wie man sich das antrainiert, steht im Abschnitt über Die Schreibübung)
    • Es gibt feste Zeiten, zu denen du nichts tust, was in irgend einer Weise Sprache benötigt oder dich intellektuell fordert. Am besten eine monotone, rhythmische Betätigung, während der das Bewusste so richtig schön durchhängen und das Unbewusste in Ruhe seine kreativen Assoziationen spinnen kann.
      Das praktische ist, dass solche Tätigkeiten sowieso ein nahezu universeller Teil des menschlichen Alltags sind und deshalb nicht extra Raum für sie geschaffen werden muss.
    • Meisten ist es am besten, erst durchzuhängen und dann zu schreiben, da das Unbewusste mit seinen Ideen während des Durchhängens in Fahrt kommt.
  2. Finde heraus, was dir beim Schreiben hilfreich oder hinderlich ist.
    • Beobachte dich dazu systematisch und schreib alles auf. Leute, Essen, Tätigkeiten, Bücher, Musik, Filme, Orte. Alles könnte hilfreich oder hinderlich sein.
    • Statte deinen Alltag konsequent mit hilfreichen Dingen und Aktivitäten aus.
    • Vermeide alles, was nicht hilfreich ist.
  3. Lerne, effizient tagzuträumen, indem du übst, über einen Gegenstand zu meditieren2, und dann dein je aktuelles Projekt zum Gegenstand der Meditation machst.
  4. Bereite deine Schreibphasen gut vor; z.B. mit diesem Ablauf:
    1. Gestalte in deinem Kopf alles so detailliert wie möglich aus.
    2. Recherchiere so viel wie möglich im Vorhinein.
    3. Verlasse deine vier Wände und beweg dich durch die Gegend. Denke dabei, was dir halt so in den Sinn kommt.
    4. Dann setz dich hin und döse.
    5. Irgendwann wirst du schreiben wollen.
    6. Tu das.
  5. Arbeite regelmäßig und stetig.
    • Vermeide Schreibexzesse, indem du dir einen festen Endpunkt setzt. Höre in jedem Fall auf zu schreiben, ehe dir die Puste ausgeht, denn das hält deinen kreativen Trieb warm.
    • Vermeide Trockenphasen, indem du deine tägliche Hirn-durchhäng-Pause genau so ernst nimmst wie die Schreibzeiten.
  6. Betrachte das Lesen als berufliche Aus- und Weiterbildung.
    • Lies alles zweimal. Einmal flott und unkritisch wie eine Normala, einmal aufmerksam und analytisch wie eine Schriftstellerin.
    • Achte auf alle Details, besonders bei erzählerischen Aufgaben, mit denen du selbst dich schwer tust. Wie lösen andere diese Probleme?
    • Spiel ‚Charaktertausch‘ und überlege dir, wie eine Geschichte verlaufen wäre, wenn jemand, den du kennst die Rolle einer der Hauptpersonen übernommen hätte.
  7. Ach was, betrachte alles als berufliche Aus- und Weiterbildung.
    • Sieh dich unvoreingenommen um, nimm alles bewusst wahr, übe Achtsamkeit für deine Umgebung. Finde neue Bilder, um Stimmung zu kommunizieren.
    • Sie die Leute um dich her genau an. Frage dich, wie sie so sind, wie sie leben, was ihre Weltsicht ist. Beobachte ihr Verhalten. Verwende sie als Rohstoff für neue Charaktere.
    • Achte darauf, was deine Aufmerksamkeit auf sich zieht und dich besonders interessiert. Finde heraus, warum das so ist. Mach Geschichten draus.
  8. Hab das Selbstvertrauen einer Schriftstellerin.
    • Finde Themen, zu denen du eine starke Meinung hast (sie muss nicht dauerhaft sein). Schreibe über diese Themen, und schreibe mit Überzeugung.
    • Vertraue der Einzigartigkeit deiner Perspektive, denn sie ist die Quelle jedweder Originalität. Niemand sieht die Dinge genau so wie du, niemand erklärt sich Dinge genau so wie du, niemand löst Probleme genau so wie du. Vertraue darauf, dass du Einzigartiges zu sagen hast.
    • Vertraue der Tiefe deiner Einsichten. Banalität ist nur eine oberflächliche Erscheinung. Ergründe die Tiefen dessen, was dich bewegt, und wirst profundes schreiben.
    • Vertraue deinem Unbewussten und seiner Kreativität.
  9. Sei empfindsam wie eine Schriftstellerin.
    • Schütze dein Unbewusstes und deinen jugendlichen Enthusiasmus vor den harschen Worten der Anderen, indem du erst über deine schriftstellerischen Ambitionen sprichst, wenn du dir durch Veröffentlichungen Street Cred erarbeitet hast.
    • Sprich niemals über eine ungeschriebene Geschichte, denn wenn sie einmal raus ist, wird dein Unbewusstes sich zu fein sein, sie nochmal zum Mitschreiben zu erzählen.

Die Schreibübung, aus der Schriftstellerinnen gemacht werden

  1. Schreibe jeden Morgen. Und zwar bevor du irgend etwas anderes gemacht hast. Besonders irgend etwas, das Worte beinhaltet. Schreib, was dir gerade einfällt. Wenn dir nichts einfällt, schreib: ‚Mir fällt die Übung heute schwer.‘
  2. Schreib wirklich alles auf, was dir durch den Kopf geht, auch wenn es dir zusammenhanglos und trivial vorkommt oder du dir nicht vorstellen kannst, wie dieser Gedankengang in etwas anderes als eine erzählerische Sackgasse führen kann.
    Dein Bewusstes hat bei den Morgenschrieben absolute Sendepause!
    Vertraue darauf, dass dein Unbewusstes weiß, was es tut. Vertraue darauf, dass es dich mit seiner Kreativität überraschen wird.
  3. Lies nicht, was du gestern früh geschrieben hast. Oder vorgestern früh. Vergangene Morgenschriebe sind jetzt noch streng geheim. Schreib einfach weiter. Nicht nachdenken.
  4. Verdopple dein Schreibpensum an Tag 3. Warum? Warum nicht!
  5. Wenn du merkst, dass es funktioniert3, verabrede mit dir selbst eine feste Zeit am Tag, zu der du schreibst. Lass alles stehen und liege, wenn der Wecker geht, such dir einen ruhigen Ort und schreibe genau fünfzehn Minuten lang. Schreibe, was dir gerade einfällt, genau so wie du es bei den Morgenschrieben tust. Vergangene Schriebe sind weiterhin streng geheim.
  6. Wenn auch das funktioniert, lege deine Schreibverabredung jeden Tag auf eine andere Uhrzeit. Mal früh, mal spät, mal so, mal so. Schreibe aber weiterhin pünktlich auf die Minute und höre pünktlich wieder auf.
  7. Wenn deine innere Künstlerin gelernt hat, sich deinen Plänen zu fügen, nimm dir die vergangenen Schriebe vor. Lies sie, als wären sie die Texte einer Fremden. Welche Genres, welche Textgattungen, welche Themen stechen aus ihrer Arbeit hervor? Ist diese Schriftstellerin Poetin, Essayistin, Romancière? – Gratulation, du hast gerade deine eigene literarische Domaine gefunden. Mach dich darin breit und fühl dich ganz wie zuhause.
  8. Such dir eines der Themen heraus, die du in deinen vergangenen Schrieben behandelt hast und tu das folgende:
    1. Arbeite die Idee 3 Tage lang in deinem Kopf aus. Schreibe dabei nichts auf.
    2. Mach 3 Tage lang eine Pause von dem Thema. Lenke dich mit Freizeitaktivitäten ab.
    3. Verabrede einen Termin, zu dem du dich hinsetzt und den Text in einem Rutsch herunterschreibst. Es gibt keinen Schlaf, ehe du nicht fertig bist.
    4. Mach mindestens 24 Stunden Pause, besser aber nochmal einige Tage.
    5. Nimm deinen Schrieb und lies ihn durch.
    6. Sei überrascht, wie gut er ist.
    7. Überarbeite ihn trotzdem nochmal gründlich.
    8. ???
    9. Profit!

Herzlichen Glückwunsch, du bist jetzt eine richtige SchriftstellerinTM mit regelmäßigem, qualitativ hochwertigem Output.

Im nächsten Artikel werde ich berichten, was ich mir so beim Lesen gedacht habe.

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1 Brandes ‚Unbewusstes‘ ist definiert als ‚alles, was einem nicht gerade im Bewusstsein herumkriecht‘. Damit entspricht es eher dem Freud’schen Konzept des ‚Vorbewussten‘, das zwar aktuell nicht bewusst ist, bei Bedarf aber leicht abgerufen werden kann. Als das ‚Unbewusste‘ bezeichnet die Psychologie auch heute noch Vorgänge und Inhalte, die dem Bewusstsein nicht ohne gezielte therapeutische Anstrengung zugänglich sind.

2 Brande geht hier nicht ins Detail, aber ich denke, sie meint die umgangssprachliche Meditation, bei der man konzentriert über etwas bestimmtes nachdenkt.

3 Wenn es trotz mehrerer, aufrichtiger Versuche einfach nicht klappen will, taugst du nicht zur Schriftstellerin und solltest andere kreative Ausdrucksformen probieren.

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