Wenn dir Sex und Gender verwirrend erscheinen, hast du sie noch nicht weit genug dekonstruiert.

/ Oktober 1, 2015

Einsen und Nullen und darüber gelegt der Text: "Es gibt 10 (eins null) Arten von Menschen: Die, die das Binärsystem verstehen, und die, die das nicht tun."

Ich weiß, der Witz ist alt, aber er passt so gut…


.
(CW: Das eurozentrische binäre Gendersystem und einige der damit verbundenen sozialen Zwänge werden beschrieben)

(EDIT: Ich habe den Text ein wenig spezifischer formuliert, um nicht die rassistische Annahme zu verbreiten, jede Gesellschaft auf diesem Planeten wäre, was Sex/Gender angeht, binär und zwanghaft gestaltet – auch wenn ich persönlich nicht daran glaube, dass es auch nur eine einzige Gesellschaft gibt oder je gegeben hat, die über vergleichbare Konzepte wie ‚Sex‘ und ‚Gender‘ verfügt – egal ob mit zwei, drei oder mehr Kategorien – diese aber weder hierarchisch sortiert noch Abweich_lerinnen gegenüber gewaltsam durchgesetzt hat; ich glaube nicht an gewaltfreie Gesellschaften, lasse mich aber gern durch Fallbeispiele wiederlegen. Bitte wiederlegt mich… Gebt mir Hoffnung… -.-)

Hier ein Link zum Vorgängerpost, in dem es auch um Gender geht: Die einzig wahre Gender-Wahrheit

Und hier wird es (scheinbar) kompliziert.
Denn die Frage ist: Ist das Gefühl, dass z.B. meine Brüste an meinem Körper fehl am Platz sind, wirklich mein eigenes?
Also haben wir hier eine idiosynkratische Körperdysmorphie, die mir eben eigen und von meinem sozialen Umfeld und dem Blick anderer Menschen unabhängig ist? Würde ich auch so für meine Brüste empfinden, wenn ich in einer perfekten, gender-gewalt-freien Welt leben würde, in der niemand Brüste für einen Marker von ‚Weiblichkeit‘ hält und alle Personen entweder mit einem geschlechtsneutralen Pronomen bezeichnet oder bei der Begrüßung nach ihrem Pronomen gefragt werden?

Wenn wir es als erwiesen voraussetzen, dass Sex UND Gender rein soziale Phänomene sind1, es also im Grunde genommen kein inhärentes Geschlechtsempfinden und entsprechend auch kein inhärentes Empfinden gegenüber den sogenannten primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen (Genitalien, Brüste, Körperbehaarung usw.) geben kann, woher kommt dann die körperliche Dysphorie2, die viele trans Menschen mit unterschiedlicher Intensität erleben? Sie kann eigentlich nur aus dem sozialen Druck resultieren. Aber wenn Geschlecht künstlich ist, was ist es dann, das sich bei trans Menschen gegen ihr sozial zugeschriebenes Geschlecht wehrt? Gibt es doch etwas inhärent geschlechtliches im Menschen?

Es scheint eine Zwickmühle zu sein, in der man immer wieder unweigerlich landet, wenn man Sex und Gender zu dekonstruieren versucht.
Aber nach langem Nachdenken ist mir aufgefallen, dass das praktisch die gleiche Zwickmühle ist, in der Nietzsche saß als er meinte: „Es gibt keinen Gott, der uns Werte vorschreibt, also gibt es überhaupt keine Werte, omg ist das furchtbar!“
Die Zwickmühle befindet sich an einem Punkt, an dem der Gedanke noch nicht vollständig zuende geführt, die Dekonstruktion noch nicht vollkommen ist.
Denn die Zwickmühle setzt weiterhin voraus, dass Gender und Sex (und in Nietzsches Fall Werte) eine besondere Sache sind, die nicht vollständig unserer menschlichen Definitionsgewalt unterliegt und die wir nicht willkürlich festlegen können.
Aber genau das stimmt nicht. Das Beispiel, an dem sich das erläutern lässt, hab ich sogar schon parat liegen:

Musikrichtungen.

‚Männlich‘ und ‚Weiblich‘ und das Cis3-Sein sind Pop-Musik, die auf jedem 08/15-Standard-Radiosender läuft.
Jed_er hat das eine oder andere Lied (die eine oder andere Geschlechterrollenerwartung), das i_hr total gut gefällt, das eine oder andere, das si_e scheiße findet, aber das meiste ist okay und nichtssagend genug, um es den ganzen Tag im Hintergrund laufen lassen zu können.
Natürlich gibt es Leute, die extrem auf die eine oder andere Band stehen, und bei manchen sind das die extrem kitschigen, klischeehaften Bands – der Nickelback des homophoben Macho oder die Helene Fischer der schuhversessenen Tussi – aber der Großteil der Leute kommt gut genug mit der Musik klar und macht sich keine sonderlichen Gedanken. Sie ist Hintergrundrauschen.

Aber hier kommt die Absurdität:
Gleich nach deiner Geburt wird getestet, wann du aufhörst zu schreien: wenn Nickelback läuft, oder wenn Helene Fischer läuft.
Auf Basis dieses Tests wirst du entweder der Nickelback- oder der Fischer-Gruppe zugeteilt, und schon bei der Wahl eines Namens für dich schreibt diese Zuteilung den Pool vor, aus dem deine Eltern wählen dürfen. Die Hälfte aller Namen ist für jeweils eine der Gruppen tabu und vom Gesetzgeber nicht erlaubt.
Dein Name muss eindeutig reflektieren, ob du bei Nickelback oder bei Fischer aufgehört hast zu schreien, ungeachtet dessen, dass das ansonsten absolut nichts über dich aussagt.
Gleichermaßen ist Musik allgemein aufgeteilt. Es gibt eine gewisse Grauzone, aber bei bestimmten Songs darfst du nur mitsingen (oder gar dazu tanzen!) wenn du der Fischer-Gruppe angehörst. Egal wie geil der Song ist: Bist du in der falschen Gruppe, darfst du ihn nicht mögen, du darfst den Text nicht kennen, du darfst nicht einmal mit dem Fuß den Takt mitklopfen. Tust du es doch, wirst du im besten Fall schief angeguckt, und im schlechtesten Fall ermordet5.
Die ganze Gesellschaft ist auf dieser Dichotomie aufgebaut. Viele Aspekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruhen darauf; die Werbung ist darauf zugeschnitten, die eine oder die andere Gruppe zu anzusprechen; im Personalausweis steht, ob du Nickelback oder Fischer bist; du wirst anders angesprochen; dir werden andere Kleider angezogen; deine Haare werden anders geschnitten; du bekommst andere Spielzeuge; es werden andere Erwartungen an dich gestellt.
„Wer bei Helene Fischer aufgehört hat zu schreien, kann nicht gut rechnen. Wer bei Nickelback aufgehört hat zu schreien, kann besser einparken. “

Genau so wie Musikgeschmack ein reales Phänomen ist und die meisten Menschen wohl damit leben könnten, zumindest in der Öffentlichkeit nur eine vorgeschriebene Palette an Musik offensichtlich gut finden zu dürfen, ist es ein Fakt, dass Menschen Vorlieben haben, wenn es um die gegenderten Aspekte von Gesellschaft und sozialer Interaktion geht, und dass die meisten Menschen relativ gut damit zurechtkommen, ihr gesamtes Leben im ‚weiblichen‘ oder ‚männlichen‘ sozialen Raum verbringen zu müssen.
Aber unser gesellschaftlicher Umgang mit Gender und all die vielen unzutreffenden Verbindungen, die wir zwischen Anatomie und Psyche sehen wollen, sind genau so absurd wie sie die Übersetzung in Musikgeschmack erscheinen lässt.

Wir würden niemals auf die Idee kommen, einzig und allein auf Basis des scheinbaren Musikgeschmacks unserer Neugeborenen unsere Gesellschaft komplett zu spalten und unsere Mitmenschen in teils vollkommen verschiedener Weise zu behandeln – aber wir halten es völlig normal, das gleiche nach einem kurzen Blick auf die äußeren Genitalien eines Kindes zu tun?

Falls mein Punkt immer noch nicht klar geworden ist, hier noch ein weiterer Erklärungsversuch:
Wenn ich Wasser in eine Schüssel mit unebenem Boden schütte, wird es sich an der tiefsten Stelle sammeln – aber nicht, weil das Wasser von Natur aus für diese Schüssel geschaffen ist und es inhärent mit der Geographie der Schüssel zusammenpasst, sondern weil ihm nichts anderes übrig bleibt.
Wenn ich Menschen in ein gegendertes System stecke, werden die Individuen zu je einem Ort innerhalb dieses Systems gravitieren – aber nicht weil Menschen von Natur aus für gegenderte Systeme geschaffen sind, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt.

Wir (Europ_äerinnen) leben in einer gegenderten Gesellschaft und müssen uns irgendwo darin verorten. Es ist ein Zwang, dem wir nicht ausweichen können, ein Gewaltakt den manche stärker spüren als andere, der aber an uns allen, an unser aller Identität, unserem Selbstverständnis, unserer Beziehung zu unserem Körper, an unseren Vorlieben und Träumen, an unseren Zukunftsplänen, unseren beruflichen Perspektiven, unserem Einkommen, unserer körperlichen und geistigen Gesundheit verübt wird. Und warum? Was ist die Basis? Der Umstand, dass manche Menschen zwischen den Beinen so aussehen und andere anders. Tiefer geht das europäische binäre Gendersystem nicht. Mehr steckt nicht dahinter. Vulva oder Penis, das ist dein Schicksal.

Und wenn jetzt ei_ner denkt: „Ja aber manche Menschen können schwanger werden und andere nicht!“ möge s_ie mir bitte erklären, wo genau der tiefgreifende psychische Unterschied zwischen einer fruchtbaren und einer unfruchtbaren Person liegt und warum die eine einen so viel anderen Lebenslauf vorgeschrieben kriegen sollte als die andere.
Ach das war gar nicht gemeint? Es waren Uteri gemeint? Und Uteri haben natürlich ein Eigenleben, und sie werden unruhig und kriechen im Körper rum, wenn ein Mensch mit Uterus nicht regelmäßig Sperma zugeführt kriegt, worin die Ursache der Hysterie liegt? Sicher doch.
Weil ja auch die Zellen von ‚Frauen‘ einfach von der Aufgabe überfordert sind, sich zwischen ihren beiden X-Chromosomen zu entscheiden und sämtliche Gene für ‚Intelligenz‘ und Rationalität auf dem Y-Chromosom liegen. Da kann nur ein psychisch unausgeglichener Mensch bei rumkommen, der schlecht rechnen kann und mindestens zwanzig Paar Schuhe besitzen will.

Fazit:
Die zwanghafte Zuschreibung von Sex und Gender ohne Einholen des Konsens der beschriebenen Individuen ist totaler, unhaltbarer, gewalttätiger, einer demokratischen Gesellschaft unwürdiger Quatsch.

Die Frage, ob meine Gefühle für meine Brüste idiosyncratische Körperdysmorphie oder eine Reaktion auf die gesellschaftlich aufgezwungene Genderung meines Körpers sind, ist damit natürlich noch nicht beantwortet, aber meine Perspektive hat sich verschoben. Vielleicht kann ich jetzt Dinge besser erkennen, die mir vorher verborgen waren und bin einer Antwort dadurch nähergekommen.

———————
1. Das biologische Geschlecht eines Menschen setzt sich aus Physiognomie, Genetik und Hormonspiegel zusammen und alle drei Faktoren sind derart variabel und voneinander unabhängig, dass es nicht möglich ist, auf ihnen ein zweigeschlechtliches System aufzubauen. ‚Weiblich‘ und ‚Männlich‘ sind zwei biologische Spektren, die sich so weit überlappen, dass man sie nicht sinnvoll voneinander unterscheiden kann. Aber wir sind evolvierte Lebewesen. Was hatten wir erwartet vorzufinden? Klarheit? Haha.
Genetisch unterscheiden sich ‚Männer‘ und Frauen übrigens nur dadurch, dass die Zellen von ‚Frauen‘ jeweils zwischen zwei X-Chromosomen wählen können (in jeder Zelle ist nur ein X-Chromosom aktiv, das andere ist permanent’zusammengefaltet‘) und dass ‚Mönner‘ zusätzlich zu ihrem einen X-Chromosom noch ein Y-Chromosom besitzen, das ganze 45 bestätigterweise für Proteine codierende Gene aufweist. Zum Vergleich: Das X-Chromosom codiert für 815 bestätigte Proteine, was im Durchschnitt für menschliche Chromosomen liegt (wir haben im allgemeinen 23 Chromosomenpaare, d.h. das Y-Chromosom ist praktisch nichts und hat außer mit Spermienqualität und evtl. der Krebshäufigkeit bei ‚Männern‘ mit überhaupt nichts was zu tun).
‚Männer‘ und ‚Frauen‘ sind genetisch praktisch identisch.

2. Dysphorie ist das Gegenteil von Euphorie und bezieht sich bei trans Menschen auf gegenderte Aspekte des eigenen Körpers und gegenderte Aspekte des Umgangs anderer Menschen mit ihnen.

3. Cis bedeutet ’nicht-trans‘. Das heißt, cis ist eine Person, wenn sie innerhalb der Grenzen des ihr von der Gesellschaft aufgezwungenen Geschlechts genügend Raum zum Überleben findet.

4. In Geschlecht zurückübersetzt wären das Menschen, für die Geschlechtlichkeit kaum oder keinen Sinn ergibt, die gegenderte Aussagen nur selten oder nie als solche wahrnehmen und die gegenderten Subtext nur selten oder nie verstehen.

5. (TW für diese Fußnote: Abwertende Bezeichnung von trans Frauen)
Nur wenige Menschen leben in so großer, so ständiger Bedrohung für Leib und Leben wie (junge, nicht-weiße) trans Frauen. Sobald sie als ‚Mann im Kleid‘ wahrgenommen werden, werden sie regelmäßig beschimpft, verprügelt, vergewaltigt und ermordet. Also nur weil ihr Körper (jetzt oder zu irgend einem Zeitpunkt in der Vergangenheit) nicht dem entspricht, was man landläufig von einer Person erwartet, die sich ‚feminin‘ kleidet und mit einem ‚femininen‘ Namen vorstellt, wird diesen Menschen Gewalt angetan.
„Du hast bei Nickelback aufgehört zu schreien und nennst dich trotzdem ‚Helen‘?! Du perverses Schwein musst leiden!“
Wie absurd ist das? Wie unnötig? Wieso lassen wir unserer Gesellschaft so etwas durchgehen? Wieso tun wir uns selbst so etwas an?

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