Todes Adoptivkind

    FSK 00

„Mein Kind.“, flüsterte es aus dem Dunkel zu mir, tief wie ein Brunnen und weich wie ein Katzenfell.
„Ich will noch nicht sterben!“
„Das sollst du auch nicht.“ Tod stand an meinem Bett und lächelte auf mich herab.
„Du siehst anders aus, als ich dich mir vorgestellt hatte.“, wagte ich zu bemerken.
„Ich habe viele Gesichter, mein Kind. Und dieses eine zeige ich nur dir.“
„Ich bin nicht dein Kind!“
„Du wirst mein Erbe sein.“
„Warum flüsterst du?“
„Du wirst mich noch schreien hören.“

„Ich bin der Tod aller Dinge, das Ende jeden Zustands, jeder Ordnung, jeden Lebens. Und auch ich kann nicht ewig sein.“
„Das verstehe ich nicht. Wirst du sterben?“
„Du wirst mich vernichten, und meine Gabe wird die Deine sein.“
„Warum ich?“
„Warum ein anderer?“

„Trockne deine Tränen, mein Kind. Sieh in mein erstes Gesicht.“
Todes kalte Hand wies auf ein Bett. Ein Mädchen lag darauf, ein Kind, mit kahlem Kopf. Bei ihm saß weinend seine Mutter.
„Komm.“, sprach Tod, fordernd wie eine hungernde Katze.
„Ich will nicht fort!“, wimmerte das Kind. „Ich will leben.“
„Du hast gelebt. Nun wirst du sterben.“
„Lass meine Tochter!“, flehte die Mutter. „Nimm mich an ihrer Stelle.“
„Es ist nicht deine Zeit. Lass es gehen.“
„Warum bist du so grausam?“
„Weil du mich dazu machst.“ Und mit einem Griff entriss er das Kind seiner Mutter.

„Warum hast du das getan?“
„Ich bin Tod.“
„Warum hast du es nicht einfach am Leben gelassen?“
„Es musste sterben.“
„Warum?“
„Alles Leben endet.“
„Aber warum so früh?“
„Jeder Mensch stirbt vor dem Ende der Ewigkeit.“

„Trockne deine Tränen, mein Kind. Sieh in mein zweites Gesicht.“
Todes Krallenhand wies wiederum auf ein Bett. Darauf, nur mit einem Lumpen zugedeckt, lag ein junger Mann, mager und mit blassem Gesicht. In seiner Faust ein Fetzen blutigen Stoffes.
Wie eine Katze sprang Tod auf die Brust des Mannes und grub seine Finger tief in das magere Fleisch. Er schüttelte ihn, zwang ihm die Luft aus den Lungen, dass er hustete und keuchte.
Aus dem Mund des Sterbenden lief Blut, doch seine Kraft reichte nicht, es abzuwischen. Er brauchte sie ganz, um gegen Todes Gewalt um Atem zu ringen.
Nun lief eine Frau in das ärmliche Zimmer, Angst und Besorgnis im Blick. Sie sah nicht Tod auf dem Bett sitzen, hielt nur ihren Mann und sprach sanft zu ihm, in einer Sprache, die ich nicht kannte und doch verstand.
Schrecken weitete ihre Augen, als sich die Hand ihres Mannes in einer letzten Anstrengung um die ihre krampfte.
Todes Arme umschlangen seine Brust und pressten sie zusammen, so dass er ersticken musste.

„Warum müssen Menschen leiden?“
„Es ist Teil des Lebens.“
„Aber du bist nicht das Leben!“
„Ich bin Teil von ihm und überall wo es ist.“

„Trockne deine Tränen, mein Kind. Sieh in mein drittes Gesicht.“
Todes Hand hielt nun eine Sichel. Damit wies er auf eine Frau, die allein durch eine dunkle Straße lief.
„Hinter dir!“, schrie er, plötzlich wie ein Schlag aus einem Katzenfell.
Die Frau fuhr herum und sah eben noch den Mann, der aus einer Nebenstraße stürmte.
Führte sein Messer Todes Sichel, oder führte die Sichel das Messer? Beide stachen sie in den Leib der Frau, und glitzernd ergoss sich ihr Blut ins Mondlicht.
„Dieser Saft.“, sprach Tod, als es vollbracht war. „Er bedeutet große Schwäche für den Menschen.“

„Ich will nichts mehr sehen!“
„Dein Wille kümmert mich nicht.“
„Ich will nicht!“
„Unsere Reise wird deinen Sinn richten.“

„Trockne deine Tränen, mein Kind. Sieh mir in mein viertes Gesicht.“
Todes väterliche Hand wies zu einer Brücke hinauf, an deren Geländer weinend eine junge Frau lehnte. In ihrer Hand hielt sie einen Brief, und ich wusste, was darin stand. Letzte Worte an die Menschen, die sie einmal ge-liebt hatte, an die, die sie allein gelassen, und an den einzigen Menschen, der trotzdem zu ihr stand.
Wie Flügel breitete sie die Arme aus. Tod tat es ihr nach, einladend und beruhigend wie der Schlaf einer Katze auf der sonnigen Fensterbank.
Er fing ihren Fall mit festem, schützendem Griff.

„Ich will trotzdem nicht!“
„Wir werden sehen.“
„Nein!“

„Trockne deine Tränen, mein Kind. Sieh mir in mein fünftes Gesicht.“
Todes warme Hand wies wiederum auf ein Bett. Eine alte Frau lag darauf, mit wächsernem Gesicht. Die Lippen schmal und faltig, der Atem schwer unter welken Brüsten. All ihre Schönheit war eingefallen und verdorrt. Die Augen, tief in den Höhlen, schauten suchend und blind in die Nacht.
„Berenice, meine Liebste.“, flüsterte Tod, warm wie ein Katzenfell.
„Da bist du endlich!“, hauchte die Frau. „Warum hast du mich so lange warten lassen?“
„Du wolltest Abschied nehmen, von den Rosenbüschen. Erst heute ist es dir gelungen.“
„Du weißt, woran die Herzen hängen, nicht wahr?“
„Ja, meine Liebste, ich weiß über die Herzen Bescheid. Nun komm, es ist Zeit, zu gehen.“ Und Tod nahm ihre knöcherne Hand in seine.

„Was geschieht, wenn sie sterben? Wohin gehen sie?“
„Zurück.“
„Wohin zurück?“
„Dorthin, wo sie schon immer waren, mein Kind. Und dann kehrt Frieden ein. Schau, dort. Der Frieden aller Dinge folgt mir nach.“
„Und was ist mit denen, die am Leben bleiben? Sie trauern. Das ist kein Frieden.“
„Auch sie werden lernen. Auch ihre Herzen werden loslassen.“
„Ich will das nicht!“

„Hör auf zu trotzen, mein Kind. Sieh mir in mein letztes Gesicht.“
Und Tod wies auf den Menschen, der mir der wichtigste war. Wies auf den Wagen, der sich näherte, rasend schnell, mit mörderischem Hufgestampf.
„Nein!“, schrie ich auf. „Nein, bitte! Tu das nicht!“ Doch Tod schritt nur langsam zu der Stelle, an der mein geliebter Mensch sterben sollte.
Zorn überkam mich, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Die Hände ballten sich mir zu Fäusten, während mein Blick vom Wagen zu meinem geliebten Menschen schoss.
„Bleib stehen!“, flehte ich den Menschen an. „So hör doch die Kutsche!“
Bald brannten meine Augen von Tränen, mein Mund brachte kein Wort mehr hervor.
Und im letzten Moment sprang ich; ohne Hoffnung, ohne Plan stürzte ich mich vor die Kutsche, Tod und den geliebten Menschen fortstoßend.
Hernach gab es nur Stille.
Wie betäubt stand ich auf, sah der Kutsche nach, sah den Menschen, wie er wieder auf die Beine kam… Erleichterung streifte mich, flüchtig, denn im selben Moment wurde ich der Bedeutung meiner Tat gewahr.

„Was geschieht jetzt?“
„Sieh…“
Und ich sah, wie Todes Fingerspitzen, die in meine Richtung wiesen, zu Staub wurden und als dünner Faden zu mir schwebten. Zugleich verspürte ich ein Brennen in meinen eigenen Fingern.
Ängstlich hob ich sie, um zu sehen, wie auch sie sich auflösten.
Bald hüllte mich Todes Staub ein, durchdrang meinen Leib, wand sich durch mein Sein, während ihm dasselbe mit meinem Staub geschah.

„Was wird sein?“, hauchte Tod.
Doch der neue Mensch hörte es nicht, stolperte nur zu dem Geliebten hinüber – die Gesichter vergessend und ängstlich geklammert an den Wimpernschlag des Lebens in einer stillen toten Ewigkeit.

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