Die Bettlerin (Eat The Rich)

FSK 18 - Triggerwarnung

Bl*t, M*rd

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Kälte. Das ist ihr einziger Eindruck, die einzige Empfindung, die in ihr Bewusstsein vordringt. Alles andere prallt einfach ab. Oder, nein, doch nicht. Etwas anderes ist da noch… Etwas, das ihr erst fremd erscheint, denn sie hat es lange nicht mehr gespürt – seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr. Mit einem Ruck erwacht sie aus ihrem Dämmerschlaf und stützt sich an der Mauer ab, um sich aus ihrer Hocke zu erheben. Ihre Finger in den zerlöcherten Handschuhen sind blaugefroren, doch sie nimmt den stechenden Schmerz nicht wahr. Auch ihre Knie spürt sie nicht, als sie sie langsam streckt. Ihr schwindelt leicht, doch die Mauer gibt ihr Halt. Die Mauer und diese eigentümliche Wahrnehmung, die sie geweckt hat.
Sie lauscht in die Nacht hinaus. Schritte im Schnee… Doch die sind nicht der Grund für ihr Erwachen, obwohl sie, seit sie vor zehn Jahren ihr Augenlicht verlor, so gut hört, dass sie auf fünfzig Meter Entfernung einen Polizisten erkennen kann, einzig an der Art, wie er geht.
Sie, Graustar-Hanni, die in der Nacht nicht den Mond erkennt, kann plötzlich die Wärme eines menschlichen Körpers sehen. So wie man an einem Sommertag durch geschlossene Lider die Sonne sieht.
Wärme. Dieses Wort, dieses Ding, füllt ihr ganzes Denken aus. Denn Wärme bedeutet Leben, und Graustar-Hanni hat nicht vor, der Welt diesen Winter schon Adieu zu sagen.
Was sie tun will, weiß sie gar nicht recht, als sie sich taumelnd aufmacht, dem roten Glühen zu folgen. Sie ist in diesem Moment mehr eine Motte, denn ein Mensch, und flattert ohne Sinn und Verstand dem Licht hinterher.
Doch als sie ihr Ziel soweit eingeholt hat, dass sie das Parfum der Frau riechen kann, kehrt ihr Bewusstsein mit einem Schlag zurück und Graustar-Hanni weiß, was die nächsten Minuten bringen sollen.
Der Griff ihrer eiskalten Finger lässt die Frau erstarren.
„Gib mir deinen Mantel! Her mit dem Mantel! Gib ihn mir!“ Graustar-Hannis Finger formen sich zu Krallen und verhaken sich in den Taschen des edlen Cashmerestücks.
„Lassen Sie mich los! Hey!“, beschwert sich die Frau, während sie versucht, sich loszureißen.
Graustar-Hanni spürt, wie sich die Frau bei diesen Worten erhitzt, sieht, wie die Wärme stärker durch ihre Kleider zu sickern beginnt.
„Ich will deinen Mantel!“ Eine gewaltige Kraftanstrengung, Knöpfe reißen ab, die Frau schreit empört auf, und schon hüllt sich Graustar-Hanni in kostbaren Stoff und noch kostbarere Wärme.
„Sie Diebin! Verbrecherin!“, zetert die Frau, doch Graustar-Hanni lässt sich gar nicht davon beeindrucken.
Grinsend hebt sie den Kopf, um die Frau anzuknurren; doch da schlägt ihr das Glühen der Frau so gleißend hart ins Gesicht, dass sie es hastig hinter einem Arm verbergen muss. Wie unerträglich schön. Wie lebendig…
„Ich werde die Polizei rufen, Sie Kriminelle!“, keift die Frau unterdessen. „Ich werde Sie anzeigen!“ Damit will sie sich abwenden und zitternd vor Kälte und Wut davonstapfen, doch sie kommt nicht weit.
Mit einem Satz springt Graustar-Hanni auf den Rücken der Frau.
„Wärme, Blut, Leben, Rot… und du bist tot!“, flüstert sie in ein beringtes Ohr, bevor sie die Kehle der Frau mit einem angerosteten Klappmesser öffnet und in großen, genussvollen Schlucken Wärme trinkt.
Schemenhaft beginnt Graustar-Hanni das Glühen ihrer eigenen Hände zu sehen, fühlt sich von innen heraus leuchten, während die Frau an Deutlichkeit verliert, bis sie unsichtbar geworden ist und vollkommen tot.
Satt und warm lehnt die Bettlerin kurz darauf wieder an ihrer Wand.
Nein, Graustar-Hanni hat nicht vor, der Welt diesen Winter schon Adieu zu sagen. Und jetzt weiß sie auch, wie sie das anstellen wird.

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